Mitgefühl erfinden
Ich war eindeutig zuerst da. Ganze zwei Minuten habe ich geduldig gewartet, bis die Verkäuferin endlich damit fertig war, frisches Gebäck im Tresen auszulegen. Zwei Minuten lang habe ich mir jedes Wort im Mund zurechtgelegt, um den hoffentlich bald eintreffenden Bestellvorgang möglichst effizient zu gestalten. Zwei Minuten lang nervös mit den Fingern auf meine Beine geklopft. Zwei Minuten lang Löcher in die Crèmeschnitten gestarrt.
Zusammengezählt warte ich also bereits gefühlte acht Minuten, als sich eine Dame mittleren Alters vor mich hinstellt. Ohne auf den Blickkontakt mit der Verkäuferin zu warten, verkündet sie ihre Bestellung. Ihr grosses Stimmvolumen lässt vermuten, dass sie selten Mühe damit hat, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und genauso mühelos schafft sie es, meine Abneigung auf sich zu ziehen.
Nachdem sie ihre fünf Gipfeli und zwei Rhabarberwähen eingepackt hat, dreht sie sich so schwungvoll um, dass ihre Einkaufstausche gegen meine Beine fliegt. «Oh, entschuldigen Sie», sagt sie überraschend freundlich. Ich erwidere ihren Blick wohl etwas zu lange, so dass sie es als Einladung für ein Gespräch missversteht.
«Ich bin etwas durch den Wind», beginnt sie zu erklären. «Wissen Sie, meine Tochter kam gerade unerwartet aus dem Ausland zu Besuch. Zehn Jahre lang hatten wir keinen Kontakt mehr. Und dann steht sie plötzlich vor meiner Tür, mit zwei Koffern und einer Scheidung. Selbstverständlich renne ich dann sofort zum Beck, um uns ein Frühstück aufzutischen. So wie früher.»
Sie presst ihre Einkaufstasche etwas enger an sich, als wäre diese gerade nach zehn Jahren aus dem Ausland zurückgekehrt, und gemeinsam verlassen sie den Laden.
Meine Wut ist verschwunden.
Ich bin sogar so glücklich, dass ich zusätzlich zu meinem Käsesandwich noch eine Crèmeschnitte bestelle. Die habe ich mir verdient. Ich habe es nämlich wieder einmal geschafft: Nur wenige erfundene Details haben eine unsympathische Dränglerin in eine fürsorgliche Mutter verwandelt. Unser Gespräch hat stattgefunden – aber nur in meinem Kopf.
Von den meisten Menschen, denen ich begegne, erlebe ich nur einen winzigen Ausschnitt ihres Lebens. Je nachdem, mit welchen Puzzleteilen ich die Lücken fülle, werden aus ihnen Heldinnen oder Bösewichte, Bünzlis oder Gutmenschen. Wenn ich die Geduld dazu aufbringe, versuche ich deshalb, diese Geschichten möglichst positiv zu schreiben. Wissen werde ich sowieso nie, was eine Person zu ihrem Verhalten bewegt hat. Aber wenigstens lässt mich meine erfundene Geschichte mit einem guten Gefühl aus dem Beck laufen – und mit einer Crèmeschnitte.
Anna Näf, Pfarrerin und Texterin, arbeitet als Jugendarbeiterin bei der reformierten Kirche und setzt sich aktiv für die Klimabewegung ein. Seit 2021 co-moderiert sie zudem den Podcast «Aufwärts stolpern».
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