Baselland, Basel-Stadt, Luzern, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Uri, Zug

Montagskrimi: Heaven is the limit

min
01.01.2016
Von Alfred Bodenheimer Er wusste, warum sie diesmal anrief, und sie wusste, warum er diesmal nicht abhob. Seit einem Jahr hatte sie mindestens einmal die Woche auch mitten in der Nacht angerufen, seventwentyfour eben, seit er aufgestiegen war in ihrer Gunst.

Er hatte es nie mehr als dreimal klingeln lassen. Zweimal sogar coitus interruptus deswegen, aber Lydia kannte die Bedingungen.
Lydia konnte sie nun nicht mehr wecken mit ihrem Geläute, die war ausgezogen, hatte dem Nervenstress nicht standgehalten, dabei war sie ja schuld an der ganzen Misere. Konnte man sagen. Als sie das vierte Mal anrief, begann er sich Vorwürfe zu machen. Machte er sich nicht selbst verdächtig, wenn er plötzlich sein Verhalten änderte? Vielleicht ahnte sie ja gar nichts. Nicht dass es geschehen war und wenn, dann nicht, dass er es gewesen war. Womöglich war er einfach auch nur daran, die Nerven zu verlieren, wie Lydia, über die er gelacht hatte, böse, verbittert, als sie gegangen war. Doch bis er sich entschloss, das grüne Feld auf dem Display anzutippen, hatte sie wieder aufgelegt.
Es folgte eine Textnachricht: Ich weiss, dass du da bist, ich weiss, dass dus warst. Ich weiss nicht, warum.
Seine Illusionen fielen in sich zusammen. Er sass auf dem Bettrand, der Schweiss trat ihm auf die Stirn. Er war geliefert.
Doch mehr noch als dieses überwältigende Gefühl des Verlorenseins, dieses plötzliche Loch im Leib, als hätte jemand seine Gedärme ausgehoben, mehr noch beschäftigte ihn ihre Frage: Warum hatte er es getan? Das hatte er sich nie wirklich überlegt, nicht vor, nicht während und nicht nach seiner Tat. Er suchte fieberhaft nach einer plausiblen Antwort. Dass er ihre Textnachricht ignorieren könnte, fiel ihm nun nicht mehr ein.
Eine Million. Lydias Idee.
Lydias Idee, Lydias Idee nicht mal Eier hat er.
Sie hatte Recht, er war ein Schlappschwanz. Und die Million erwähnte sie nicht mal weil sie wusste, dass Geld nicht der Grund war. Er hätte bei ihr mehr verdienen können, nicht sofort, aber mit der Zeit. The sky is the limit? hatte er sie ironisch gefragt, als sie ihn hatte aufsteigen lassen. Heaven is the limit, hatte sie geantwortet, ernster als erwartet.
Wieviel die CD wirklich wert war, wusste er nicht. Wieviel sie der Konkurrenz nützte und ihr schadete. Er wusste nur, dass sie in der einzigen festverschlüsselten Datei lag, zu der keiner, auch er nicht, Zugang hatte. Nur sie. Wenn du die knackst, bist du der Chef, nicht mehr sie, hatte Minou gesagt. Erst lachend. Dann ernster, schließlich wie eine Litanei, beim Mittagessen, in der Kaffeepause. Dann knack sie doch, hatte er Minou schliesslich angefaucht und hatte den Tisch gewechselt. Lydia war sitzengeblieben. Und Lydia war die, die Zugangscodes knacken konnte, nicht er. Hatte er Angst gehabt, sie an Minou zu verlieren, wenn er nicht mitspielte? Aber Lydia war doch nicht bi. Glaubte er wenigstens.
Lydia wollte, dass er Chef würde.
Doch die Chefin wirklich herauszufordern, das traute er sich nicht zu.
Lydia und er einigten sich auf die Million. Zuerst untereinander, dann mit der Konkurrenz.
Er schaute aufs Display, wo immer noch ihr rüder Vorwurf leuchtete.
Polizei?
Eine überflüssige Frage. Wahrscheinlich würde es bald Sturm läuten, zwei Herren in Zivil, dahinter ein paar Uniformierte, man kannte das vom Fernsehen.
So billig kommst du mir nicht weg.
???
Nehmt die Million. Zeigt, dass ihr besser seid als ich.
Er rief Lydia an.
Spinnst du, mich um halb drei zu wecken?
Er erzählte ihr alles.
Was ist denn los?, hörte er im Hintergrund Minous verschlafene Stimme.
Keine Stunde später war Lydia bei ihm.
Vergiss Minou, flüsterte sie und platzierte Mund und Hände zielgenau. Sie wusste, was sie ihm schuldig war.
Danach war sie völlig aufgedreht.
Jetzt wirst du doch noch Chef. Und ich auch. Mit einer Million Startkapital. Ich fass es nicht! Warum sagst du denn nichts? Wir werden es ihr zeigen. Der Konkurrenz sowieso. Ich hab tausend Ideen. Die wird sich noch wundern!
Er drehte sich zur Seite. Lydia hörte nicht auf zu quatschen, bereits bereute er, dass er sie überhaupt angerufen hatte. Ihre Stimme begann ins Beleidigte zu kippen.
Und du hast zum Ganzen tatsächlich überhaupt nichts zu sagen. Drehst dich weg und lässt mich ganz allein die Zukunft entwerfen, was. Ich möchte, dass du jetzt endlich was sagst zu der Zeit, die ab heute beginnt!
Er gab sich einen Ruck und setzte sich auf. Heaven is the limit, sagte er.



Alfred Bodenheimer, geboren in Basel, erhielt eine traditionelle jüdische Ausbildung und besuchte Talmudhochschulen in Israel und den USA. In Basel studierte er Germanistik und Geschichte. Seit 2003 ist er Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte an der Universität Basel. Vor kurzem publizierte er die zwei Kriminalromane «Kains Opfer» und «Das Ende vom Lied». 2014 wurde er mit dem Züricher Krimipreis ausgezeichnet.


Wettbewerb
Haben Sie erkannt, welche biblische Geschichte der Kurzkrimi aufgreift. Wenn ja, dann mailen Sie die Antworten zu den Montagskrimis vom 13., 20. und 27. Juli sowie 3. August an: redaktion@kirchenbote.ch
Zu gewinnen gibt es fünf Kriminalromane.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


Foto: bilderbox.com

Verwandte Artikel:
13.07.2015: Montagskrimi: Rotkehlchens Abgesang
20.07.2015: Montagskrimi: Ein fast perfekter Diebstahl
03.08.2015: Montagskrimi: Der Prozess
10.08.2015: Montagskrimi: War es Mord?

26.08.2015: «Üble Geschichten»

Unsere Empfehlungen

Weihnachtszeit, Wichtelzeit

Weihnachtszeit, Wichtelzeit

Christkind und Samichlaus haben Konkurrenz bekommen: Wichtel Finn schlägt für die Migros die Werbetrommel. Doch warum erobert ein ursprünglich skandinavischer Troll die Herzen der Schweizer?
Gemeinsam beten – zu intim?

Gemeinsam beten – zu intim?

Beten ist für viele fast so intim wie das, was im Schlafzimmer passiert, schreibt Pfarrerin Anna Näf in ihrem Gastbeitrag. Warum das Gebet einen geschützten Rahmen braucht – und wieso selbst sie als Pfarrerin manchmal Gebetshemmungen hat.