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«My Dach isch dr Himmel vo» Obdachlose mitten in Basel

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01.01.2016
In der Schweiz leben tausende Menschen als Obdachlose unter freiem Himmel oder abwechselnd bei Bekannten und Freunden. Zwei davon sind Erwin und Ildiko in Basel. Ihr «Zuhause» befindet sich seit zweieinhalb Jahren im St. Albantal in den Nischen der alten Stadtmauer. Ein Augenschein.

«Mis Dach isch dä Himmel vo Züri», singt der Schauspieler Charly Carigiet als Obdachloser im Schweizer Heimatfilm «Hinter den sieben Gleisen». Was schon damals für Zürich galt, gilt heute für mehr Menschen in der Schweiz als man denkt, auch in Basel. Ein Besuch bei Erwin und Ildiko.

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Juli. Die Sonne scheint, aber es ist noch frisch am Morgen. Ich bin unterwegs ins St. Albantal. Dort, wo Touristen den Letziturm und Teile der Stadtmauer im Mühlegraben besichtigen, wohnen Erwin und Ildiko. Aus einem Kanonenofen steigt leichter Rauch, an einem Campingtisch sitzt Ildiko, eine Tasse Kaffee vor sich. Das Radio läuft und Erwin raucht eine Zigarette. Von den Balken der Holztreppe, die zur kleinen Matte hinunterführt, hängen Töpfe, die schön mit Blumen bepflanzt sind. Auch am Boden spriessen bunte Blumen, einige aus zwei alten Schuhen. In der Bogennische der Stadtmauer liegt ein Schlafsack, in den anderen Nischen Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände für den täglichen Bedarf Ferienlageridylle könnte man meinen. Hier wohnen aber zwei Menschen, deren Dach über dem Kopf der Himmel von Basel ist.

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Oktober. Ich bin erneut unterwegs ins «Dalbeloch». An diesem Tag passt der umgangssprachliche Name besser zum tristen Wetter. Der Himmel ist bedeckt, es nieselt leicht und das Thermometer zeigt knapp vier Grad an. Gefühlt sind es zwei, drei Grad weniger. Noch immer begrüssen einen Blumen, am Campingtisch sitzt wie vor Monaten Ildiko und Erwin weibelt umher. «Nimmst Du einen Kaffee», fragt er. Keine Frage, denn um hier eine Stunde in der Kälte zu verharren und ein Interview zu führen, braucht es einen Betriebsstoff, der wärmt.
Erwin und Ildiko wohnen seit zweieinhalb Jahren im St. Albantal, genauer im Mühlegraben. Als sie sich kennenlernten, hatten beide eine eigene Wohnung. Erwin arbeitete als Hauswart. Gelernt hatte er aber Zooartikelverkäufer, «ein Job, bei dem man lange arbeiten muss und wenig verdient», hält er fest. Die Stellen, an denen er gearbeitet hat, reihen sich auf wie Perlen an einer Kette: Würth, Roche, Migros und dann der Hauswartposten. Da war er schon geschieden und hatte drei Kinder. Gleich viele wie Ildiko, auch sie geschieden. Um mehr Geld verdienen zu können, musste sie ihr Heimatland Ungarn verlassen, nachdem sie ihren Job bei Bosch verloren hatte. Im Service kam sie in Österreich unter, später dann in der Schweiz.

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Das Übel begann, als Erwin sich entschloss, zu Ildiko zu ziehen. «Das war der grösste Fehler», sagt er und unterstreicht es mit einer ausladenden Handbewegung. Ildiko stimmt ihm mit einem Nicken zu. Die Wohnungen der Liegenschaft wurden vom Pächter des Restaurants vermietet. Doch dieser kam den finanziellen Forderungen des Hausbesitzers nicht nach. Knall auf Fall mussten die Mieter ausziehen, als der Wirt Insolvenz anmeldete, erzählt Erwin. Von da an reihten sich die Wohnorte bei Freunden und Bekannten aneinander wie zuvor die Jobs von Erwin . . . bis die beiden von einem Obdachlosen den «Standort» im St. Albantal übernehmen konnten.
Die Wohnung ohne Dach ist gut eingerichtet. Den Kanonenofen konnten Erwin und Ildiko vom «Schwarzen Peter» ausleihen. Dort befindet sich ihre Postadresse wie für 350 weitere Obdachlose der Stadt Basel. Eben sei das Couvert für die Nationalrats- und Ständeratswahlen reichlich verspätet angekommen, bemerkt Erwin. Auch der Alltag ist gut organisiert. «Die Wäsche waschen wir an der Wallstrasse, wo wir auch duschen können.» Hin und wieder bietet ihnen der «Schwarze Peter» Gelegenheit für kleinere Arbeiten und einen Zuverdienst. Das sei nötig, meint Erwin, die 680 Franken, die er von der Sozialhilfe erhält, reichen nur knapp für ein Leben zu zweit. Denn, so Erwin: «Ich muss auch eine Haftpflicht- und Hausratversicherung bezahlen.»
Das ist indessen eher das kleinere Problem. Ildiko hatte Schwierigkeiten mit den Zähnen. Dank Zuwendungen von Freunden und Stiftungen konnten sie die Rechnung bezahlen. Darin zeigt sich, dass die Anwohner im Quartier Erwin und Ildiko akzeptieren. Als Erwin notfallmässig ins Spital musste, konnte Ildiko in der nahen Jugendherberge wohnen. Auch hier wurde das Geld aufgebracht.

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Auf der Treppe hört man Schritte nahen. Es ist Godi mit seinem Hund, ein Anwohner, der Erwin und Ildico regelmässig besucht. Erwin ist zurzeit daran, eine Einzimmerwohnung für sich und Ildiko zu suchen. Die Angebote kann er auf dem «Tablet» von Godi im Internet suchen und bei ihm ausdrucken. Manchmal bringt Godi auch Kleider für sie mit oder geht mit ihnen einkaufen.
Erneut hört man Schritte auf der Treppe die Polizei. Kein ängstlicher Blick ist die Folge, sondern ein erfreuter Willkommensgruss. «Heute scheinen alle zu uns zu kommen», sagt Erwin und auch Ildiko grüsst den Polizisten freundlich. David Schmid ist der Quartierpolizist für die Quartiere St. Alban und Breite. Er kennt die Situation der beiden Obdachlosen gut und hilft ihnen, wo er kann. Zum Beispiel bei der Wohnungssuche. Bei Bewerbungen dient er den beiden als Referenzperson. «Die Zwei sind gewillt, ihre Situation zu verändern. Sie haben einen guten Kontakt zu den Menschen im Quartier, also unterstütze ich sie, wo es möglich ist», sagt David Schmid. Erwin hat schon einige Wohnungen besichtigt, aber noch keinen Zuschlag bekommen. Manchmal auch, weil ihm die Wohnung nicht zusagte. «Für uns kommt es nicht mehr in Frage, Küche, WC und Bad mit andern zu teilen. Eine Einzimmerwohnung genügt uns, aber eine mit eigener Küche und eigenem Bad.»

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An diesem Morgen geht es nicht um die Wohnung. David Schmid drängt auf einen Termin auf der ungarischen Botschaft in Bern. Dort liegen ein neuer Pass für Ildico und Unterlagen bereit, die ihre Scheidung bestätigen. «Ich brauche das, damit Erwin und ich heiraten können», sagt Ildiko. Nur: Das Geld für den Pass und die Übersetzung der in ungarischer Sprache verfassten Dokumente fehlt. Für den Rest des Monats und das ist noch die ganze zweite Hälfte müssen 150 Franken ausreichen. Es ergibt sich aber im Gespräch, dass die benötigten rund 500 Franken aus dem Sozialfonds einer Kirchgemeinde bezahlt werden können. Als Mittlerperson übernimmt Quartierpolizist David Schmid die Koordination.
Die Heirat hätte für Erwin und Ildiko neben dem ideellen Wert auch einen finanziellen: Wenn sie ein Paar sind, erhalten sie mehr Sozialhilfe und können sich so die Einzimmerwohnung besser leisten. Jene, die Erwin demnächst besichtigen möchte, kostet monatlich 780 Franken, mehr als er als Alleinstehender bisher insgesamt an Unterstützung bekommt. Für den Winter hat sich schon eine Verbesserung ergeben. Ein Schrebergartenbesitzer stellt Erwin und Ildiko sein Gartenhäuschen zur Verfügung heizbar und mit Küche. «Und erst noch legal, weil es erlaubt ist, dort zu übernachten», fügt Quartierpolizist David Schmid bei, «das gibt uns Zeit, eine ansprechende Wohnung zu finden.»

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Es ist selten, dass ich nach einer Reportage mit einem so guten und dankbaren Gefühl nach Hause gehe, um einen Text zu schreiben. Dass hier Polizei, Anwohner und soziale Institutionen so unkompliziert und menschenfreundlich Hilfe leisten, ist ein bisschen wie Weihnachten. Aber eben nur ein bisschen, denn in Basel gelten rund 1000 Menschen als obdachlos. Nicht allen ergeht es so gut wie Erwin und Ildiko.


Zum Bild: Trügerische Idylle an der Basler Stadtmauer: Wohnort zweier Obdachlosen. | of

Franz Osswald

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