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Lukas Kundert

Nach Attentat in Sydney: «Jüdinnen und Juden weltweit wissen, dass sie mitgemeint sind»

von Daniel Stehula/ref.ch
min
19.12.2025
Das Attentat auf eine Chanukka-Feier in Sydney betreffe nicht nur jüdische Menschen in Australien, sagt der Basler Kirchenratspräsident Lukas Kundert. Auch hierzulande seien Jüdinnen und Juden zunehmend bedroht.

Lukas Kundert, am vergangenen Sonntag verbreiteten sich die Meldungen über das Attentat in Sydney rasant. Was hat es in Ihnen ausgelöst?

Kundert: Entsetzen. Die Welt befindet sich in einer Abwärtsspirale des zunehmenden Antisemitismus. Auch wenn das Attentat in Sydney war, wissen Jüdinnen und Juden weltweit, dass sie mitgemeint sind.

Sie präsidieren einen schweizerisch-israelischen Verein und pflegen viele Kontakte zu jüdischen Bekannten. Wie geht es diesen Menschen?

Sie sind betroffen. Die globale jüdische Gemeinschaft ist klein, oft sind bei solchen Katastrophen Verwandte oder Freunde betroffen. Wie jede Einzelne damit umgeht, ist individuell verschieden. Man darf nicht vergessen, dass die jüdische Gemeinschaft, zum Beispiel bei uns in Basel, ein Abbild der Gesellschaft ist. Manche lassen solche Meldungen nicht an sich heran. Andere haben Angst vor weiteren Anschlägen – und manche schon seit Jahrzehnten. Viele meiner alten Freunde leben heute in Israel, weil sie sich dort sicherer fühlen als hier.

Hatten Sie direkten Kontakt mit Jüdinnen oder Juden?

Normalerweise gehe ich in solch einer Situation in die Synagoge, um Solidarität zu zeigen. Aber gerade bin ich krank und tausche mich nur über SMS mit jüdischen Menschen aus. Meine jüdischen Bekannten freuen sich über die Unterstützung von Christen.

Am Montag fand in Basel ein Schweigemarsch gegen Antisemitismus und Antiisraelismus statt – und eine Pro-Palästina-Gegendemonstration. Sind weitere öffentliche Aktionen vorgesehen?

Der Silent Walk war schon lange im Voraus geplant. Wir von der Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft haben im Moment nichts Öffentliches geplant. Es ist ein Problem: Mit Aktionen wie den Silent Walks nimmt man einen Kampf auf, den man schon verloren hat – nämlich den um den öffentlichen Raum und diesen auch zum Schutz von Juden zu nutzen.

Man nimmt die Schweiz noch als Insel der Seligen war, aber die Entwicklung ist eine andere.

Nach dem Attentat von Sydney haben Rabbis in den USA erklärt, ihre Gemeinschaften hätten den Eindruck, sie befänden sich in einem Belagerungszustand.

Das kann ich nachvollziehen. Jüdische Menschen in der Schweiz sind zwar nicht so sehr an Leib und Leben bedroht wie in Berlin oder Paris, aber sie spüren die Ablehnung. Ich höre es von jüdischen Studenten, die als solche erkennbar sind, dass der Besuch an der Universität für sie ein Spiessrutenlauf ist. Auch in der Schweiz brauchen Synagogen verstärkten Polizeischutz. Man nimmt die Schweiz noch als Insel der Seligen war, aber die Entwicklung ist eine andere. Der nächste Gaza-Konflikt wird die nächste Verschärfung der Lebensbedingungen für Schweizer Juden bringen, wie bereits heute in Frankreich oder Deutschland.

Sie sprechen von Übergriffen?

Ja, es ist zu befürchten, dass es schlimmer wird. Es ist verrückt: Ich habe mein ganzes Berufsleben lang darauf gesetzt, dass man dem Antisemitismus mit Bildung begegnen kann. Jetzt muss ich anerkennen, dass es nicht so ist. Bildung schützt nicht davor, unter Akademikern ist Antisemitismus sogar besonders stark verbreitet.

 

Lukas Kundert (59) studierte Evangelische Theologie in Basel und Judaistik in Jerusalem. Bevor er 2004 zum Kirchenratspräsidenten gewählt wurde, war er fünf Jahre lang Industriepfarrer im Basler Pfarramt für Industrie und Wirtschaft, das in diesem Jahr aus finanziellen Gründen seinen Betrieb einstellen musste. Seit 2009 amtet Kundert als Pfarrer am Basler Münster, ausserdem ist er Titularprofessor an der Universität Basel.

Gemeinsam mit anderen Pfarrpersonen gründete Kundert den «Verein Evangelische Schweizer Kirche in Israel», dem er auch vorsteht. Ziel ist unter anderem, in Jerusalem ein reformiertes Pfarramt einzurichten. Ausserdem macht sich der Verein für die Antisemitismus-Prävention stark. Lukas Kundert ist geschieden und hat einen Sohn. (no)

 

Sie setzen sich in verschiedenen Funktionen für den Austausch zwischen Juden und Christen ein und gegen den Antisemitismus. Wenn Bildung nicht hilft, was bleibt Ihnen dann?

Man sagt, Papst Johannes Paul II. sei der verlässlichste Partner der Juden gewesen. Man führt es darauf zurück, dass er in seiner Jugend in Polen mit Juden zusammen Fussball gespielt hat. In diesem Sinn setzen wir auf Begegnungen auf menschlicher Ebene. Auf Erlebnisse losgelöst von Religion.

Ich schlage vor, dass die Schweizerinnen und Schweizer ohne Wenn und Aber hinter ihren jüdischen Landsleuten stehen.

An der öffentlichen Chanukka-Feier in Bern diese Woche sagte Stadtpräsidentin Marieke Kruit, alle sollten Haltung zeigen und «ein Zeichen setzen gegen die Schatten unserer Zeit». Wie könnte man konkret ein solches Zeichen setzen?

Das Schönste für Jüdinnen und Juden in der Schweiz ist, wenn man ihnen zeigt, dass sie nicht allein sind. Wenn man jemanden kennt – auch wenn der Kontakt nur lose ist – kann man der Person schreiben und sein Mitgefühl ausdrücken. Ich schlage vor, dass die Schweizerinnen und Schweizer ohne Wenn und Aber hinter ihren jüdischen Landsleuten stehen. Dass man wieder natürlich zusammenlebt und dem «Othering» entgegenwirkt: Der Ausgrenzung aufgrund von Herkunft, Religion oder Aussehen. Besonders stark wäre, wenn die Kirchen sich ihren Kantonsregierungen als Verbündete im Kampf gegen den Antisemitismus anbieten würden.

Die weltweite Polarisierung durch den Gaza-Krieg ist stark durch die sozialen Netzwerke beeinflusst. Weshalb hat die israelische Regierung den «Krieg der Bilder» verloren?

Diese Frage wird in Israel gerade diskutiert. Man hat die sozialen Netzwerke vernachlässigt und darauf gesetzt, dass die Vernunft für einen spricht. Doch gegen die Macht der Bilder kommt man nicht an. Man kann sich auch fragen, ob Israel diesen Kampf überhaupt hätte gewinnen können. Theodor W. Adorno hat gesagt, Antisemitismus sei ein Massenmedium. Er knüpfe an unbewusste Triebregungen, Konflikte und Tendenzen an, die er verstärke und manipuliere. Oder anders gesagt: Gäbe es keine Juden, der Antisemit würde sie erfinden.

Das Interview wurde zuerst auf ref.ch veröffentlicht.

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