«Niemand ist vor psychischen Krisen gefeit»
Weihnachten gilt als Fest der Freude, der Lichter und des Zusammenseins. Doch für viele Menschen ist diese Zeit alles andere als unbeschwert. «Die Weihnachtszeit ist für viele eine der belastendsten Phasen des Jahres», weiss Thomas Habegger. Seit zehn Jahren ist der reformierte Seelsorger in der Klinik Zugersee, Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, tätig – einem Ort, an dem sich das Menschsein in all seiner Verletzlichkeit zeigt.
Begegnung – auch ohne Worte
Er erlebt Menschen in Krisen, in Momenten der Sprachlosigkeit, der Scham und der Verzweiflung. Oft sind es Themen, die schlicht das Leben betreffen: Beziehungen, Beruf oder der Sinn des Daseins. Manche von Habeggers Gesprächen benötigen mehrere Wochen, andere nur wenige Minuten. Manchmal geht er einfach mit jemandem eine Runde spazieren, ohne Worte. «Auch das kann eine Form von Begegnung sein.»
Gerade um Weihnachten herum spitzen sich viele dieser Themen zu. Der Druck, fröhlich zu sein, Erinnerungen an vergangene Feste, familiäre Spannungen – all das kann schwer lasten. «Viele Menschen tragen in dieser Zeit etwas mit sich herum, was im Alltag unter dem Teppich bleibt», sagt Habegger. «An Weihnachten kommt es hoch.»
Einige seiner Patientinnen und Patienten dürfen für kurze Aufenthalte nach Hause, andere müssen in der Klinik bleiben. «Für jene, die bleiben, ist das nicht leicht. Man spürt das Fehlen, das Draussensein, die Normalität der anderen.» Doch er lobt das Pflegepersonal, das sich gerade dann besonders bemüht, eine warme Atmosphäre zu schaffen.
Da sein als Gesprächspartner, als Gegenüber, als Mensch
Habegger weiss, dass psychische Krisen jede und jeden treffen können. «Niemand ist gefeit. Niemand», betont er.
Ich habe hier Menschen erlebt, die mitten im Berufsleben standen, Führungskräfte, Eltern, Studierende. Und plötzlich geht nichts mehr.
Die Tabuisierung psychischer Erkrankungen hält er deshalb für eines der grössten Probleme: «Viele denken noch immer, das betrifft nur die, die ‹spinnen›. Aber das stimmt einfach nicht.» Seine Aufgabe ist es, da zu sein – als Gegenüber, als Gesprächspartner, einfach als Mensch. Der Glaube spielt dabei eine Rolle, aber keine trennende. «Ob jemand religiös ist oder nicht, ist völlig nebensächlich. Entscheidend ist, dass man sich aufeinander einlässt.» Sein persönlicher Glaube habe sich über die Jahre verändert. «Er ist kein fester Fels, eher etwas Bewegliches. Ein Fundament, das sich mitbewegt. Das gefällt mir besser als ein Glaube, der starr ist.»
Was hilft ihm selbst, die oft schweren Geschichten auszuhalten? «Bewegung. Gehen. In der Natur und in der Stille sein und Dinge hierlassen können.» Der Spaziergang, sagt er, sei oft auch für die Patientinnen und Patienten ein Schlüsselmoment: «Wenn man nebeneinander geht, kommt manchmal etwas in Bewegung, das im Sitzen verschlossen bleibt.»
Bei Einsamkeit das Gespräch suchen
Und wie erlebt er Weihnachten persönlich?
Für mich ist Weihnachten eingebettet in einen grösseren Zusammenhang – vom Ewigkeits- respektive Totensonntag bis zur Geburt Christi. Es ist ein Gang vom Ende zum Anfang. Das berührt mich immer wieder.
Wer sich an Weihnachten einsam fühlt, dem rät Habegger: «Suchen Sie das Gespräch. Mit jemandem im Umfeld, einer vertrauten Person, einer Seelsorgerin oder beim Telefon der Dargebotenen Hand, 143. Und vielleicht auch andersherum: Wer merkt, dass es jemandem nicht gut geht, einfach ansprechen. Das kann schon ein Stück Boden geben.»
Am Ende bleibt für Thomas Habegger die Hoffnung, dass selbst inmitten von Dunkelheit immer wieder etwas Neues aufscheint. «Vielleicht ist das die eigentliche Botschaft von Weihnachten», sagt der Seelsorger der Klinik Zugersee leise. «Dass mitten in der Nacht ein Licht aufgeht.»
«Niemand ist vor psychischen Krisen gefeit»