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Nothilfe aus der Schweiz

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01.01.2016
1915 ereignete sich ein Genozid an den Armeniern in Anatolien. Doch bereits Jahre zuvor wurden etwa hunderttausend Armenier umgebracht. Unzählige Waisen blieben zurück. Der Basler Arzt Hermann Christ und sein Pfleger Jakob Künzler kümmerten sich im türkischen Urfa um Kinder und Opfer.

Ein harmloser Geschäftsbrief verbarg Entsetzliches. Der Absender hatte es sich gut überlegt, wie er die Nachricht vom Massenmord an den Armeniern durch die osmanische Zensur schmuggeln konnte, und deshalb schrieb er am 10. September 1915 nach Berlin: «Die Spitaltätigkeit konnte während des Kriegsjahres beständig fortgesetzt werden. Sogar ohne die üblichen Ferien im Juli u. August. Gerade in diesen Monaten nahm die Armenierpraxis riesige Dimensionen an, so dass an ein Schliessen des Spitals gar nicht zu denken war. Was wir für den kommenden Winter benötigen, ist [sic] reichliche Mittel, da die Armenierpraxis Grosses von uns fordern wird.» Zwar schwärzte der Zensor die Passagen mit dem Begriff «Armenierpraxis», tat dies aber so schludrig, dass die Adressaten den Text entschlüsseln konnten. Nun erhielten sie die Bestätigung, dass sich während des Sommers 1915 in Urfa, ja in ganz Anatolien, ein Massenverbrechen an den Armeniern ereignet haben musste.

Land des Blutes
Sechs Jahre später hat der Briefschreiber enthüllt, was sich hinter dem getarnten Hilfeschrei verbarg. In seinem Augenzeugenbericht über den Genozid an den Armeniern, der unter dem Titel «Im Lande des Blutes und der Tränen» 1921 erstmals erschien, schreibt der Schweizer Jakob Künzler: «Bereits Ende Juni [1915] waren die ersten Deportiertenzüge aus dem Norden in Urfa angekommen. Wer immer von diesen Unglücklichen konnte, versteckte sich in den christlichen Häusern in der Stadt, um dem Weitertransport in die Wüste zu entgehen. Sie erzählten von furchtbaren Erlebnissen, die sie auf der bisherigen Reise gehabt hatten.»
Künzler erlebte nicht nur die Todesmärsche der Verfolgten, sondern im Oktober 1915 auch das Ende der ortsansässigen Armenier, die sich nach bewaffnetem Widerstand der türkischen Armee auslieferten und entweder auf der Stelle umgebracht oder in den Tod geschickt wurden. Vierzehn Tage lang mussten Alte, Frauen und Kinder auf ihren Abtransport warten, und während ihr Hab und Gut bereits versteigert war, töteten zahlreiche Mütter aus Verzweiflung ihre Kleinkinder.

Auf dem Weg ins Nichts
Und immer noch, bis in den Juni 1916 hinein, durchquerten unzählige Elendszüge die Stadt auf dem Weg ins Nichts: «In Der-es-Sor, einem Städtchen am Euphrat, war ein grosses Konzentrationslager [sic] von Armenierüberresten aus allen Gegenden Armeniens und Anatoliens. Es mochten noch gegen 60'000 sein, meist nur noch wandelnde Skelette. Mussten sie sich doch auf Misthaufen mit den hungernden Hunden um einen Überrest von Brot oder sonstigem Essbarem streiten.» So schildert Jakob Künzler.
Allein im Winter 1915/16 betreute er über zweitausend Patienten, die an Flecktyphus erkrankt waren; in den 25 Betten des Spitals lagen stets etwa vierzig Kranke. Eine Hungersnot im darauffolgenden Winter bescherte nicht abbrechende Todesraten im Spital und erst recht ausserhalb.
Doch wie und weshalb war der unfreiwillige, aber gerade deswegen auch unverdächtige Augenzeuge überhaupt in diesen abgelegenen Teil des Osmanischen Reiches gekommen? Hier ist eine Rückblende nötig: Bereits 1894 bis 1896 wurden in massiven Pogromen um die hunderttausend Armenier getötet, meist Männer. Entsprechend gross war die Zahl der Witwen und Waisen. Einen traurigen Höhepunkt erlebte auch Urfa, wo Ende Dezember 1895 Tausende von Armeniern massakriert wurden.
Angestossen und getragen von den protestantischen Landeskirchen erhob sich hierzulande eine gewaltige Protestwelle, die in einer Petition an den Bundesrat kulminierte, der beim Sultan gegen die Verfolgung der christlichen Brüder und Schwestern intervenieren sollte. Begüterte Basler Bürger dem «Daig» galt christlich-humanitäres Wirken als Pflicht beschlossen, über eine deutsche Organisation Hilfe für die überlebenden Armenier in Urfa zu leisten, und schickten den jungen Basler Arzt Hermann Christ nach Obermesopotamien, um dort den Überlebenden medizinisch beizustehen. Parallel dazu richtete die deutsche Hilfsorganisation in Urfa ein Waisenhaus für 250 bis 300 armenische Kinder ein, obendrein eine Teppichweberei, um Witwen wenigstens ein kleines Auskommen zu ermöglichen.

Unterstützung aus Basel
Nachdem er in Konstantinopel das türkische Staatsexamen abgelegt hatte, gelangte Christ Ende 1898 nach Urfa, damals eine Stadt mit rund fünfzigtausend Einwohnern, in einer total verarmten Region. Dort übernahm er eine ärztliche Station, die er bis 1903 zu einem kleinen Spital mit zehn Betten ausbaute. Für diese Aufgabe aber brauchte Christ einen geschulten Helfer, und diesen fand er in Jakob Künzler, den er während seiner Assistenzzeit am Bürgerspital in Basel als Pfleger kennen und schätzen gelernt hatte.
Bezahlt wurden sowohl der «Herr Doktor» wie ihn Künzler lebenslang zu nennen pflegte als auch der Assistent vom begüterten Vater Christs. In dessen persönlichem Basler Umfeld waren einige Personen bereit, das kleine «Schweizer Spital» in Urfa aus christlich motivierter Nächstenliebe bis zu seinem Ende 1922 finanziell über Wasser zu halten.


Buch: Emanuel La Roche: «Doctor, sieh mich an!» Der Basler Arzt Hermann Christ auf medizinischer Mission in der Osttürkei (18981903), Chronos Verlag 2013.


Zum Bild: Armenische Waisen auf den Dächern und Balkonen des Waisenhauses von Urfa im Jahr 1899. | Privatarchiv La Roche

Emanuel La Roche

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