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Plötzlich sind sie unsere Nachbarn

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01.01.2016
Die Gemeinde Wilchingen im Kanton Schaffhausen zählt 1700 Einwohner. Während fünf Wochen lebten rund 60 Flüchtlingsfamilien in der Zivilschutzanlage des Dorfes. Viele Wilchinger leisteten freiwillig Hilfe und trafen Menschen, die sie zuvor nur aus Schlagzeilen kannten.

«Zunächst waren alle in Wilchingen überrumpelt», sagt Irmgard Keltsch, Pfarrerin der reformierten Kirchgemeinde in Wilchingen über das Ankommen der 80 Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien und dem Irak am 12. November 2015. Weil das offizielle Auffanglager in Kreuzlingen überfüllt war, bezogen die Menschen als vorübergehende Notunterkunft die unterirdische Zivilschutzanlage der Mehrzweckhalle in Wilchingen. Aus dem anfänglichen Überrumpeltsein wurde schnell eine gut organisierte Hilfsaktion. Die Kirchgemeinde übernahm in Zusammenarbeit mit dem Vorstand der Landfrauen, dem Sozialamt und dem Zivilschutz die Koordination der Hilfsangebote von Freiwilligen, Vereinen und Privatpersonen.

Die Wilchinger Landfrauen organisierten eine Spielzeug- und Kleidersammlung, ein Wäscheprogramm und boten Nähen, Basteln, Spielen und Deutschlernen für die Männer, Frauen und ihre Kinder an.

Es sei eine bewegende Zeit gewesen, sagt Irmgard Keltsch. Die unmittelbare Begegnung mit den Menschen sei emotional für viele Helferinnen und Helfer nicht immer leicht gewesen. «Viele von denen, die sich intensiv engagierten, litten in der ersten Woche unter Schlafproblemen», erzählt die Pfarrerin. Denn die persönliche Begegnung war etwas ganz anderes als das, was man aus den Medien kannte. «Wir erlebten, dass das Menschen sind wie du und ich. Die Not dieser Menschen war auf einmal ganz nah spürbar Aber auch die Freude an der Begegnung und sehr viel Nähe.»

Schicksale mitten im Dorf
Dies bestätigt auch Maja Tappolet, Präsidentin der Wilchinger Landfrauen. «Wir in der Schweiz sind es nicht gewohnt, persönlich mit solchen Schicksalen konfrontiert zu werden.» Das habe sich auf einen Schlag verändert. «Die Berichte aus den Medien standen plötzlich leibhaftig vor uns und hatten Gesichter.» Die Erlebnisse dieser Menschen seien aufwühlend gewesen und oft nur in kleinen Dosen zu ertragen. Auch wenn die Verständigung nur mit Händen und Füssen möglich war, habe man das Wesentliche verstanden. Die Geschichte des Mannes zum Beispiel, der mit ansehen musste, wie Frau und Sohn auf der Reise ertranken. Oder die Geschichte der syrischen Familie, die ein Jahr lang versteckt in ihrer Wohnung lebte und diese nur verliess, um Nahrung zu besorgen. Die Eltern mussten mit ansehen, wie eins ihrer Kinder dabei erschossen wurde.

«Diese Schicksale beschäftigten uns auch in der Nacht», sagt Maja Tappolet, «und manchmal konnten wir nur noch weinen.» Was es leichter machte, war das Gefühl, helfen zu können. «Als die Flüchtlinge ankamen, waren sie traumatisiert, erschöpft und krank. Nach einer Woche Verschnaufpause fanden sie wieder etwas zu sich selber und konnten Kraft schöpfen. Dann erwachte auch das Interesse an unseren Hilfsangeboten.» Für viele dieser Menschen sei Wilchingen die erste Insel seit langer Zeit gewesen. «Plötzlich war wieder ein Lächeln da und Blickkontakt.» Besonders eindrücklich sei das bei einem Jungen gewesen, der am Anfang nur gezittert und sich verkrochen hatte. «Nach zwei Wochen begrüsste er uns mit einem Lächeln und einem Give me Five», erinnert sich die Helferin.

Sprache als Hindernis
Eine grosse Schwierigkeit habe die Sprachbarriere dargestellt. Bei der Kleiderabgabe zum Beispiel. «Wir wollten den Frauen sagen, dass sie zwei paar Schuhe nehmen sollen für die Kinder statt einem und warme Sachen, weil es in der Schweiz kalt werden kann. Aber sie verstanden uns nicht und wählten die Kleider nach optischen Kriterien.» Es sei hart gewesen, an solchen Dingen zu scheitern. «Man stösst schnell an Grenzen», sagt Maja Tappolet.

Am Ende der zweiten Dezemberwoche reisten die letzten Flüchtlingsfamilien weiter nach Kreuzlingen. Das Auffanglager war wieder in der Lage, Menschen aufzunehmen. Im Rückblick zeigen sich Irmgard Keltsch und Maja Tappolet sehr berührt von der grossen Hilfsbereitschaft der Menschen aus dem Dorf, die quer durch alle Vereine, Konfessionen und Altersgruppen ging. Mit jeder Woche kamen mehr helfende Hände dazu. Natürlich habe es auch kritische Stimmen gegeben. Solche, die um die Mehrzweckhalle einen Bogen schlugen, und solche, die von allem nichts mitbekamen, weil die Flüchtlinge untertage einquartiert waren. Aber diejenigen, die hinsahen, halfen. Schnell, unkompliziert und tatkräftig.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


Zum Bild: Beim gemeinsamen Spielen kehrte für die Flüchtlingskinder wieder etwas Normalität zurück.
Foto: Gasser/Kirchenbote

Adriana Schneider / Kirchenbote / 4. Februar 2016

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