Rentner-Report eines Pfarrers: «frostfest leben»
Seit einem halben Jahr bin ich Rentner. So richtig mit AHV und allem Drumherum. Zeit für eine Zwischenbilanz. Mein Vater (Kaufmann) war zu diesem Zeitpunkt schon vier Jahre frühpensioniert. Und noch mehr beschäftigt als je davor. Das wird mir nicht passieren, sagte ich vergnügt.
Alle Anfragen für Vorstandsarbeiten habe ich konsequent abgesagt. Das fiel mir leicht. Selbstverständlich braucht es kompetente Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren in all den wichtigen sozialen, kulturellen und kirchlichen Projekten. Ganz besonders in einer immer öfter egoistischen Welt, in der sich alle selbst optimieren und die Leitfrage «Was bringt mir das?» ist.
Das Vorstandsleben liegt mir einfach überhaupt nicht. Wenn ich Zahlen sehe, flimmern meine Augen. Das war schon in der Schule so, wenn Mathe-Lehrer Suter uns Algebra und Integralrechnen beibringen wollte. Ob das Briefpapier (wie old school ist das denn?) des Vereins nach hundert Jahren ein neues Logo braucht, ist mir herzhaft wurscht.
Also fing ich gleich nach meiner Pensionierung wieder an mit Improvisationstheater, eine lange Zeit liegen gelassene Leidenschaft. Zwei Stunden Kursabend mit anderen sind für mich wie Ferien. Eine wichtige Grundregel beim Improvisieren lautet: Nimm Angebote an, die ein Gegenüber dir macht. «Ja genau!» heisst das Motto. Auch wenn du keine Ahnung hast, was daraus wird. Ob du zum Beispiel ein Ritter bist, der durch einen Schlingpflanzenwald zu einer Drachenhöhle gelangen muss, um eine Prinzessin zu befreien, die – wie sich herausstellt – bereits verheiratet ist. So geht das Schlag auf Schlag.
Ich versuche, das Motto in mein Leben zu integrieren, und sage Ja, wenn mich jemand zu einem Kaffee einlädt. Ich hatte noch nie so viele spannende Begegnungen mit Menschen, die ich oft wenig oder sogar überhaupt nicht voher gekannt hatte (ausser virtuell). Und lerne über diese wieder andere kennen. In der Begegnung entsteht etwas völlig Neues, sie verändert mich und mein Gegenüber manchmal auch. Ich lerne neue Sichtweisen kennen, neue Gedanken denken.
Sogar neue Wörter tauchen auf. Am Geburtstagsfest in einem Rebberg spricht jemand über «Schmelzpunkt-Depression», und eine andere wirft einfach mal das wunderschöne Wort «frostfest» in die Runde. Darüber lachen wir viel, bis die Sonne über dem fernen Elsass in Technicolor («#ohnefilter») untergeht und wir still zuschauen.
Oder vier Menschen treffen sich, fast alle kennen sich noch nicht. In der neu erstellten Chatgruppe tauchen manchmal heitere und oft herzerwärmende kleine Botschaften auf. Wir treffen uns wieder; essen, lachen, erzählen aus unseren sehr unterschiedlichen Leben. Raum und Zeit zu haben für Begegnung, macht mich froh. Das macht mir Mut in diesen chaotischen Weltzeiten. Wenn nicht jetzt frostfest leben, wann dann? «Ja, genau!»
Martin Dürr, inzwischen pensionierter Pfarrer, leitete zuletzt das Pfarramt für Industrie und Wirtschaft in Basel-Stadt und Baselland. Neben seinem «Enkeldienstag» engagiert er sich unter anderem für die Wibrandis-Stiftung im Gemeindehaus Oekolampad.
Rentner-Report eines Pfarrers: «frostfest leben»