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Fokus Stadt und Land

Steht die Kirche noch im Dorf?

von Tilmann Zuber
min
25.09.2024
Christoph Sigrist war Pfarrer in Stein im Toggenburg und am Zürcher Grossmünster. Er hat zu Bauern wie zu Bankern gepredigt und weiss, wie die Menschen auf dem Land und in den Städten ticken. Ein Beitrag zum Fokusthema Stadt und Land.

Christoph Sigrist, steht die Kirche auf dem Land noch im Dorf?

Dieses Bild stammt vom Ende des 19. und vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Natürlich war das vor dreissig Jahren in Stein SG so: Von jedem Bauernhof kam am Sonntag ein Familienmitglied zum Gottesdienst. Und den Jugendgottesdienst besuchten 100 Prozent der Jugendlichen. Das war Tradition. Aber dieses Bild der vollen Sonntagsgottesdienste
ist Ballenberg. Denn Kirche findet heute unter der Woche im Alltag statt.

Gilt das auch für das Grossmünster?

Ja, natürlich. Der sonntägliche Gottesdienstbesuch ist auf eine kleinere Gruppe älterer Menschen zusammengeschmolzen, die ihn brauchen und schätzen. Ab und zu gibt es eine Taufe, eine Trauung oder ein Staatsbegräbnis. In der vergangenen Woche hatten wir täglich 3000 Menschen im Grossmünster. Die Kirche steht also mitten im Dorf der Stadt. Das gilt auch für die Stadtkirchen in Bern und Basel. Meine Rolle als Pfarrer im Grossmünster musste ich neu lernen: Samstags zog ich den Talar an und ging für zwei Stunden ins Grossmünster. Viele Besucher und Touristen hielten mich für einen Priester. Nach den zwei Stunden war ich erschöpft, so viele Gespräche habe ich geführt.

Seelsorgerliche Gespräche?

Ich war alles: Seelsorger, Touristenführer, Toilettenhinweiser, Schamane, Ritualmeister, Sozialarbeiter, Entertainer, Lehrer oder Kunstführer für die Polke-Fenster.

Ist das die Zukunft der Citykirchen?

Es ist die Gegenwart. Die Verschiebung vom Sonntag zum Werktag ist vollzogen. Das Pfarramt muss sich neu definieren, wenn die Kirche Kirche im Dorf bleiben will.

Die Kirchenleitungen sehen das oft anders ...

Das mitgliedschaftsorientierte Denken ist irrelevant geworden. Auch für den Gottesdienst. In den letzten Jahren hat es eine Verschiebung hin zum interreligiösen, atheistischen Resonanzraum gegeben. 20 Prozent der Gottesdienstbesucher an Festtagen sind vielleicht Ausgetretene oder Konfessionslose. Und am Abendmahl haben neben Katholiken auch Muslime und Hindus teilgenommen.

Wir sollten die Perspektive wechseln. Die Kirche hat die grosse Chance, auf neue Weise gesellschaftlich relevant zu werden.

Unterscheidet sich ein Pfarramt auf dem Land von einem Pfarramt in der Stadt?

Nicht gross. Im Pfarramt steht der Mensch im Zentrum. Es sind die Beziehungen zu den Menschen, die die Arbeit tragen. In der Berggemeinde Stein, die damals 180 Mitglieder hatte, habe ich gelernt, dass ohne Hausbesuche kein Pfarramt arbeiten kann. Dasselbe gilt später für meine Arbeit hier am Grossmünster.

Sind die Leute auf dem Land anders als in der Stadt?

Nein, der Mensch hat immer eine Urangst und ein Urvertrauen, egal ob er Bauer, Banker oder Atheist ist. Das ist die grosse Schnittmenge. Natürlich gibt es Nuancen.

Welche?

Der Alltag, das Umfeld und die Kultur färben ab. In Stein habe ich gelernt, mit dem Bauernverband zu reden, in St. Gallen mit der Textilbranche und in Zürich mit der Bankenwelt und den Zünften.

Diese Kontakte brauchten Sie, um etwas zu bewirken?

Ja, in Stein habe ich mit der Schweizer Berghilfe Traktoren für die Bauern gekauft. Und in Zürich habe ich im Spendenparlament Geld und Geist zusammengebracht.

Sie gehören zu den Pfarrerinnen und Pfarrern, die nicht über den Rückgang der Kirchenmitglieder klagen.

Die Erzählung vom Mitgliederschwund bezieht sich auf die juristische Grösse der Kirchen. Wir sollten die Perspektive wechseln. Die Kirche hat die grosse Chance, auf neue Weise gesellschaftlich relevant zu werden. Die Citykirchen sind Anwälte dafür geworden, wie Kirche als sakraler Raum zum Rückzugsort in der postmodernen Gesellschaft werden kann. Mit ihren Räumen und ihren Freiwilligen im sozialen und im kulturellen Bereich haben sie ein enormes Potenzial. Hinzu kommt ihr Menschenbild, das die Menschen nicht als Konsumenten oder sonst wie verzweckt sieht, sondern die Menschen so nimmt, wie sie sind. Das ist zukunftsweisend. Wir müssen nur lernen, eine andere Perspektive zu entwickeln und andere Finanzierungsquellen zu erschliessen.

Von Ihnen stammt das Zitat, dass die Zürcher Citykirchen gleich viel Besucher haben wie der Zürcher Zoo. Viele davon sind aber nur Touristen.

Was heisst nur Touristen? Religionssoziologische Studien zeigen, dass die Unterscheidung zwischen Touristen und Pilgern fliessend ist. Kirchenräume sind sakrale Räume, die anders schwingen und eine besondere Atmosphäre ausstrahlen. Das spüren die Besucher, sie betreten die Kirche andächtig, sprechen leise, manche zünden eine Kerze an. Während der Corona-Krise und der Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen suchten immer wieder Menschen diesen spirituellen Raum auf.

Zwingli war ein Toggenburger Bauernsohn, und der Toggenburger ist grundehrlich und schlau. Wenn ihm etwas nicht passt, sagt er es. Zwingli hat gemerkt, wie verlogen die Kirche war. Das trieb ihn an.

Das Grossmünster ist die Wirkungsstätte von Zwingli. Auch er kam vom Land. Hat diese Herkunft die Reformation in Zürich beeinflusst?

Ja. Erstens: Zwingli war ein Toggenburger Bauernsohn, und der Toggenburger ist grundehrlich und schlau. Wenn ihm etwas nicht passt, sagt er es. Zwingli hat gemerkt, wie verlogen die Kirche war. Das trieb ihn an. Seine Frage war nicht die Luthers nach einem gnädigen Gott, sondern: Was ist richtig und recht? Das fragte der Toggenburger. Zweitens hat Zwingli das politische Moment des «Miteinanderschnurrens» von den Alpgenossenschaften übernommen. Die Toggenburger Bauern sitzen im Frühling in einer Beiz zusammen und legen die Bestossung der Alp fest. Dieses Modell spiegelt sich in der Zürcher Disputation. Und drittens: Zwingli brachte den Klang des Alpsteins in die Stadt. Er liebte die Musik, sang viel, komponierte Lieder und die Ouvertüre für eine Oper.

Er hat doch die Orgel aus der Kirche verbannt.

Damals sangen die Chorherren die Messe, das Volk sang nicht. Zwingli sah diesen Gesang der Geistlichen im Gottesdienst nicht vor, deshalb brauchte er auch keine Orgel mehr.

Zum Schluss: Was können die Stadtkirchen von den Landkirchen lernen?

Dass die Präsenz des Pfarrers oder der Pfarrerin vor Ort entscheidend ist. Ohne Beziehungen ist ein Pfarramt auch in der Stadt Zürich nicht möglich.

Und was kann die Kirche auf dem Land von der Stadt lernen?

Auch in Nesslau und Stein gibt es Muslime und Muslimas. Der interreligiöse Wandel der Gesellschaft hat jeden Winkel unseres Landes erreicht. Die Kirchen auf dem Land können da viel von den Erfahrungen in der Stadt lernen.

 

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