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Verlassene Eltern

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01.01.2016
Plötzlich brechen erwachsene Kinder die Beziehung zu ihren Eltern ab und lassen sie wütend und ohnmächtig zurück.

Angelika Kindt setzte sich mit einer Tasse Tee an ihren Computer und schaltete ihn ein. Wie an jedem Arbeitstag. Doch dieser Montag sollte ihr Leben verändern. Mit ein paar Klicks öffnete sie die E-Mails. Ihre Tochter hatte ihr geschrieben. Nach unzähligen Vorwürfen endete das Schreiben mit der Erklärung «für eine gemeinsame Zukunft sehe ich keine Möglichkeit». Die Worte, die Kindt dort las, verschwammen ihr vor den Augen. Ihre Tochter habe ihr gekündigt, sagt Angelika Kindt später. So wie wenn man einen Arbeitsvertrag oder eine Wohnung kündigt. Von einem Augenblick auf den anderen.
Für Kindt begann ein Albtraum, der nicht aufhörte. Ihre Tochter lehnte jeden Kontakt zu ihr ab. Alle Versuche mit ihr ins Gespräch zu kommen, wurden abgewürgt. Die Mutter wurde verzweifelter. Wut, Kränkung, Ohnmacht und Ratlosigkeit wechselten sich ab. Was hatte sie falsch gemacht? Was konnte sie noch tun? Auf ihre Frage bekam sie keine Antwort. Zwischen ihr und ihrer Tochter herrschte eisiges Schweigen. Oder «Funkstille», wie dies die Autorin Tina Soliman in ihrem gleichnamigen Buch und Dokumentarfilm bezeichnet.
Als Tina Soliman sich auf die Suche nach betroffenen Eltern begab, stellte sie fest, dass es keine Einzelfälle sind. Schätzungen gehen davon aus, das jedes zehnte Elternpaar betroffen ist. Der Sohn, die Tochter, der Bruder oder die Schwester brechen ohne Vorwarnung die Beziehung ab und verschwinden vom Radar des Familienlebens. E-Mails werden nicht beantwortet, Briefe verweigert, die Geschenke an die Enkel zurückgeschickt. Zurück bleiben Angehörige, die ständig nach Erklärungen ringen. Da sie keine Antwort erhalten, können sie den Prozess nicht abschliessen.
Viele schweigen aus Scham. Denn im Umfeld finden sie für ihre Situation wenig Verständnis. Es sei schwierig, dies anderen zu erklären, erzählt Sandra Meier*, die eine Selbsthilfegruppe aufsucht. Die einen raten, man «solle nicht so blöd tun, die anderen, man solle sich zusammensetzen und aussprechen».
«Doch das funktioniert nicht, wenn der Sohn oder die Tochter den Kontakt verweigern», erzählt Meier. Regelmässig trifft sie sich mit zehn anderen zum Austausch. «Das sind normale Menschen wie Sie und ich.» In der Gruppe erlebt sie, dass sie mit ihrem Schicksal nicht alleine dasteht und andere das Gleiche durchmachen.
Die Gründe für den Abbruch sind verschieden und bleiben im Dunkeln. Bei manchen Beziehungen zeichnet sich die Trennung durch Streitigkeiten ab. Bei anderen geschieht es aus heiterem Himmel. Über Jahre litten die Kinder unter dem Gefühl, nicht verstanden, akzeptiert, geliebt oder wertgeschätzt zu werden, mutmas­sen Psychologen. Andere seien mit dem Druck der Eltern nicht zurechtgekommen. Doch eine eindeutige Erklärung kann auch die Psychologie nicht bieten.

Alttestamentlicher Generationenvertrag
Das Alte Testament gebietet «Du sollst Vater und Mutter ehren.» Über Jahrhunderte wurde das vierte der zehn Gebote von Generation zu Generation weitergegeben. Unzählige Konfirmanden lernten es im kleinen Katechismus auswendig. Eltern, deren Kinder den Kontakt zu ihnen verweigern, fragen sich, gilt dieses Gebot heute nicht mehr? Dürfen die eigenen Kinder so undankbar sein, nachdem man sich über Jahre für sie aufgeopfert hat?
Der alttestamentliche Generationenvertrag entstand vor 3000 Jahren in einer Gesellschaft, die kein staatliches Sozialsystem kannte. Die Sippe und Grossfamilie regelten das wirtschaftliche Überleben. So wie die Eltern sich um ihre Kinder kümmerten, so sollten die Kinder später für die betagten Angehörigen sorgen. Der moralische Appell des Gebotes stellte dies sicher. Den Respekt zu den Eltern und die Liebe kann das biblische Gebot nicht verordnen. Das war schon vor 3000 Jahren so.
Heute haben die Sozialwerke die Aufgabe der Altersversorgung übernommen. Das fünfte Gebot bildet das soziale Fundament der Gesellschaft: Die ältere Generation ist nicht auf die finanzielle Unterstützung ihrer Kinder angewiesen. Sie gestaltet die letzte Lebensphase weitgehend nach ihren Vorstellungen. Vorbei die Zeiten, als Betagte wie in der Parabel vom alten Grossvater und seinem Enkel in der Ecke ihre Suppe aus einem Holznapf schlürfen mussten.
Im hebräischen Wort für «ehren» schwingt der Begriff «jemandem das Gewicht einräumen» mit. Vielleicht war dieses Gewicht der Eltern in der Beziehung zu ihren Kindern zu gross, sodass diese sich nicht anders zu helfen wussten, als sich zu entziehen und den Kontakt abzubrechen.

«Wir drehten uns wie Hamster im Käfigrad»
Es sei falsch, wenn Eltern gegenüber ihren erwachsenen Kindern irgendwelche Erwartungen hegten, sinniert Lilly Klein. Die Mutter hat ihre Geschichte in dem Buch «Wegwerfeltern» festgehalten. Ihr Sohn hatte ihr und seinem Adoptivvater eines Tages mitgeteilt, er wolle von ihnen nichts mehr wissen. Er brach sämtlichen Kontakt ab. Im Internet verfolgt die Mutter die Karriereschritte ihres Sohnes. Mehr wagt sie nicht. Ihr Sohn hatte ihr gedroht, sie von der Polizei wegweisen zu lassen. Dem Kontaktabbruch waren jahrelange Streitigkeiten vorausgegangen, an denen sich Kleins aufgerieben hatten.
Seitdem kreisen die Gedanken und Gespräche von Lilly Klein ständig darum, was sie falsch gemacht hat. «Wir drehten uns wie Hamster im Käfigrad mit dem Versuch, unsere offenen Fragen zu beantworten», stellt sie heute fest.
In einen Brief des Theologen Karl Barth an den Schriftsteller Carl Zuckmayer aus dem Jahr 1968 hat Lilly Klein einen Rat gefunden, der ihr hilft, die Entscheidung ihres Sohnes zu akzeptieren. «Du sollst dir klar machen,» schreibt Barth, « dass die jüngeren, die verwandten oder sonst lieben Menschen beiderlei Geschlechts ihre Wege nach ihren eigenen (nicht deinen Grundsätzen), Ideen und Gelüsten zu gehen, ihre eigenen Erfahrungen zu machen und nach ihrer eigenen (nicht deiner) Fassung selig zu sein und zu werden das Recht haben.» Und Barth weiter: «Du sollst sie unter keinen Umständen fallen lassen, sollst sie vielmehr, indem du sie frei gibst, in heiterer Gelassenheit begleiten, im Vertrauen auf Gott auch ihnen das Beste zutrauen, sie unter allen Umständen lieb behalten und für sie beten.»
Meier kann dem zustimmen. Doch bis man diese Einsicht verinnerlicht, wartet ein langer schmerzhafter Weg. Meist müssen sich die Eltern damit abfinden. Dass sich die Kinder wieder melden, komme selten vor. «Aber Sie wissen ja. Die Hoffnung stirbt zuletzt», fügt Meier hinzu.



*Name von der Redaktion geändert

Tilmann Zuber

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