Völkermord beginnt mit abschätzigen Kollektivbildern
Herr Kreis, was ist das Besondere am Genozid an den Armeniern?
Das Besondere besteht darin, dass es ein modernes Verbrechen war. Es wurde mit modernen Mitteln in einer breiteren Öffentlichkeit ausgeführt. Man deportierte die Armenier in Eisenbahnwagen zur Vernichtung und organisierte diese auch mithilfe des Telegrafen Besonders ist auch, dass es Überlebende gibt, die sich schon in der Zeit selber und auch noch nach hundert Jahren gegen das Vergessen wehren. Der Genozid an den Armeniern ist sozusagen ein Bindeglied zum Genozid an den Juden. Die Erinnerung an den Holocaust bezieht sich auf den Vorläuferfall der Armenier, auch wenn man in der Vernichtung der europäischen Juden einen historisch einmaligen Vorgang sieht.
Hatte die Vernichtung der Armenier religiöse Gründe?
Die religiöse Dimension ist nur eine. Damals hatte die Abgrenzung über die Religion nicht den Stellenwert von heute. Der Genozid gilt einem ganzen Volk. Genos im Griechischen für «verwandte Gemeinschaft» meint nicht nur die Religion, die ja nicht rein volksgebunden ist. Es geht dabei um den Volksbegriff, wie man sich selber definiert. Es herrschte bei den Armeniern wie bei ihren Verfolgern eine ethnische Vorstellung von sich selber. Hinzu kam als entscheidender Punkt, dass das Osmanische Reich die Armenier als innere Feinde sah, denen man vorwarf, mit Russland zu kooperieren.
Welche Bedeutung kommt dem Genozid an den Armeniern in der modernen Geschichte zu?
Es ist ein wichtiger Referenzpunkt, an dem die Frage, was Genozid ist, verhandelt wird. Da geht es nicht nur um die Vorgänge an sich, sondern um politische Benutzung von Geschichte. So wollte Grossbritannien 1919 die osmanische Regierung für dieses Verbrechen zur Rechenschaft ziehen. Weil es aber weltpolitisch nicht mehr opportun erschien, liess man es bleiben. Atatürk, der Begründer der modernen Türkei, befürwortete anfänglich die Bestrafung. Doch auch er verlor aus politischen Gründen das Interesse daran.
Wie kann man Völkermorde verhindern?
Das mag eine wichtige Frage sein, wenn man an die Gefährdung ganzer menschlicher Kulturen denkt. Dieses Denken riskiert zu übersehen, dass auch Verbrechen in «kleinerer» Zahl Verbrechen sind. Es macht für die direkt Betroffenen nur bedingt einen Unterschied aus, wie viele Mitbetroffene es gibt. Aber um die Frage zu beantworten: Das Verhindern von Völkermorden beginnt mit dem Kampf gegen abschätzige Kollektivbilder.
Georg Kreis, emeritierter Professor für Neuere Allgemeine Geschichte und Geschichte der Schweiz, Universität Basel, war bis 2011 Leiter des Europa-Instituts und Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus.
kim
Völkermord beginnt mit abschätzigen Kollektivbildern