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Vor den Flüchtlingen kommen die Ängste

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01.01.2016
Im Chor des Zürcher Grossmünsters debattierte man einst über theologische Fragen. Am Samstagmorgen wurde auch wieder diskutiert, allerdings über ein anderes Thema: Wie verhält sich die Schweiz angesichts der globalen Flüchtlingsbewegungen?

Das Sprichwort «Schweigen ist Gold» mag für den Einzelnen stimmen. Für eine Gesellschaft ist es hingegen elementar, dass öffentlich debattiert wird, zumindest dann, wenn sie sich als offene Gesellschaft versteht. Während es in den USA die «Town Hall Debates» gibt, haben
Bürgerversammlungen in der Schweiz jedenfalls ausserhalb der Gemeindeversammlungen immer noch Seltenheitswert.
Dass an öffentlichen Diskussionen ein Interesse besteht, zeigte die Veranstaltung «Welches Land wollen wir sein?», die am Samstagmorgen im voll besetzten Chor des Zürcher Grossmünsters
stattfand. Das Format wurde in Deutschland entwickelt und kam nun erstmals auch in die Schweiz. Die Idee: Eingeladene Persönlichkeiten aus Politik und Kultur liefern kurze Statements ab, die anschliessend zur Diskussion gestellt werden. In Deutschland beteiligen sich bekannte Namen an der Debatte, etwa Daniel Cohn Bendit, Richard David Precht oder Volker Finke. Umso erfreulicher, dass auch für die Schweizer Ausgabe einige interessante Persönlichkeiten gewonnen werden konnten:
Neben den Journalisten Daniel Binswanger («Das Magazin») und Matthias Daum («ZEIT») kamen die politische Philosophin Katja Gentinetta, der Präsident der «Street Parade» Joel Meier und die
Bloggerin Yonni Meyer. Die Ansprachen hielten Stadtpräsidentin Corine Mauch und Gastgeber Christoph Sigrist.

«Freiheit und Grenzen schliessen sich nicht aus»
Corine Mauch skizzierte in ihrer Einführung die aktuelle Krisensituation in Europa und wies auf die doppelte Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus und das Aufkommen rechtsextremer
Bewegungen hin. In dieser Bedrohnungslage dürfe der Westen seine Werte nicht zur Disposition stellen. Angesichts der Flüchtlingskrise riet Mauch zu einer pragmatischen Haltung. «Empathie für die
Flüchtlingen wird nicht reichen, und Zäune werden sie nicht abhalten», meinte sie und betonte, dass Integration eine Anstrengung von beiden Seiten erfordere. Die Stadt Zürich sei aber ein gutes Beispiel dafür, wie das Zusammenleben verschiedener Kulturen funktionieren könne.
Auch Katja Gentinetta machte geltend, dass die aktuelle Situation kein Schwarz-Weiss-Denken erlaube. Das Nachdenken über Grenzen dürfe nicht mit dem Hinweis auf den Überwachungsstaat tabuisiert werden. «Freiheit und Grenzen schliessen sich nicht aus, sie bedingen sich», meinte sie. Stabilität und Rechtsstaatlichkeit seien daher Bedingungen für eine erfolgreiche Asylpolitik. Von Seiten der Asylsuchenden brauche es den Willen zur Integration. Es müsse ihnen vermittelt werden, dass Asyl ein Gesellschaftsvertrag sei, der eine Leistung von beiden Seiten erfordere.

«Flüchtlingschance» statt «Flüchtlingsproblem»
Matthias Daum wies in seinem Beitrag auf die Manipulation durch rechtspopulistische Politiker hin, die versuchten, das Bild einer Schweiz in der Opferrolle zu verbreiten. Er plädierte für eine Schweiz,
die «nicht ständig vom einen Extrem des Grössenwahns ins andere der Minderwertigkeitsgefühle» kippe. Mehr Mut und mehr Selbstbewusstsein, lautete sein Rat.
Einen etwas andern Einblick bot die Bloggerin Yonni Meyer, bekannt als Pony M. Sie schilderte ihre Erfahrungen mit Rassismus in den Sozialen Netzwerken, drückte aber auch sehr offen ihre Überforderung angesichts der Flüchtlingsproblematik aus. Diese Überforderung teilten alle, egal ob rechts oder links, meinte Meyer. Damit biete sich aber auch die Möglichkeit, sich auf einer gemeinsamen Diskussionsgrundlage zu treffen.
Ebenfalls eigene Erfahrungen brachte der Präsident der Street Parade, Joel Meier, ins Spiel. Als Organisator habe er erlebt, wie die Raver von der Gesellschaft zunächst ausgegrenzt, dann aber als Bereicherung empfunden worden seien. Heute feiere die ganze Stadt mit ihnen. Ähnlich funktioniere das bei allem, was zunächst als fremd erscheine. Er wünsche sich eine Schweiz, «in der es nicht ein Flüchtlingsproblem, sondern eine Flüchtlingschance gibt».

Die Ängste sind da
Als letzter Redner wies Daniel Binswanger zunächst auf ökonomische Fakten: Ein Wirtschaftssystem, das auf freiem Waren- und Kapitalfluss beruhe, sei notwendig auf Zuwanderung angewiesen. Das gelte speziell für Deutschland, das ohne massive Zuwanderung seine wirtschaftliche Vormachtstellung nicht werde halten können. Dass die Migration kein unlösbares Problem sei, zeigten zudem die früheren Migrationswellen. Sowohl Italiener, Tamilen wie auch die Migranten aus
Ex-Jugoslawien seien inzwischen bestens in der Schweiz integriert. Binswanger betonte zudem, wie wichtig es sei, eine falsche Rechtsentwicklungen zu verhindern. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die «displaced people» in den 20-er Jahren. Deren Internierung in grossen Auffanglagern sei eine Vorstufe des Totalitarismus gewesen.
In der anschliessenden öffentlichen Diskussion wurden vor allem zwei Aspekte deutlich: Auch wenn in der Schweiz (noch) nicht von einem eigentlichen «Flüchtlingsproblem» gesprochen werden könne, wie ein Teilnehmer einwandte, sind die Ängste gross. Nur schon die Fernsehbilder von den Ertrinkenden stellten für sie eine Überforderung dar, meinte eine Teilnehmerin. Diese Angst müsse ernst genommen werden, bemerkte ein anderer, zugleich müsse aber auch der Mechanismus des Angst-Schürens bewusst gemacht werden. Es sei wichtig, ein Gespür dafür zu entwickeln, wer in diesem Land ein politisches Interesse daran habe, Angst zu verbreiten. Ebenfalls spürbar war der Wunsch, dass die Aufnahme von Migranten nicht eingleisig verlaufe. Auch die Flüchtlinge müssten zu ihrer Integration etwas beitragen und sich mit den Normen unserer Gesellschaft vertraut machen, meinte eine Teilnehmerin.


Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».


Zum Bild: Wie handeln wir, wenn sie zu uns kommen? Flüchtlinge am Wiener Westbahnhof. | Wikimedia/Bwag

ref.ch/Heimito Nollé

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