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«Wie viele Tote sehen wir in unserem Leben?»

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01.01.2016
Peter Greenaway hat den Ruf, eine polarisierende Persönlichkeit zu sein. Sein künstlerisches Werk ist keine leichte Kost, oft faszinierend und schockierend zugleich. Ebenso radikal sind seine Ansichten über den Tod.

Herr Greenaway, Sie lassen in Basel den Totentanz wieder auferstehen. Was fasziniert Sie am Tod?
Der Tod ist ein wichtiges Thema für mich. Als ich studierte, arbeitete ich in Spitälern und schob tote Körper herum. Ich war auch oft anwesend beim Sezieren von Leichen. Ich verbrachte fünf Jahre in der Kunstschule, wo man vor allem die Anatomie studiert. Nach und nach wurde mir die Erscheinung des Todes ziemlich vertraut. Jetzt bin ich 71 Jahre alt, und wenn ich daran glaube, dass wir nur 70 Jahre auf der Welt sein sollten, bin ich jetzt sozusagen in der Verlängerung.

Wollen Sie nicht älter werden?
Meine ältere Tochter ist zwölf Jahre alt. Ich habe ihr versprochen, wenn immer möglich noch hier zu sein, wenn sie 21 Jahre alt ist. Ich möchte die Menschen, die ich liebe und die mich lieben, nicht unglücklich machen. Aber die Langlebigkeit, die wir anstreben, finde ich problematisch, es sei denn, die Lebensqualität wäre extrem gut. Ein langes Leben ist ein Privileg der Reichen in Westeuropa. Auf der Welt leben sieben Milliarden Menschen. Das sind viel zu viele. Wir beuten die Erde aus und ruinieren sie. Sind das nicht Warnzeichen, dass wir es nicht sehr gut machen?

Deshalb darf man nicht alt werden und sein Alter geniessen?
Ich lebe in Amsterdam. In Holland diskutiert man seit Jahren über Euthanasie.

Jetzt wird das Thema heikel!
Ich weiss, dieses Wort erschreckt die meisten. Aber ich glaube, dass wir dieses Tabuthema diskutieren müssen. In Holland gibt es Leute, die ernsthaft über verpflichtende Euthanasie nachdenken, weil es zu viele Menschen auf der Welt gibt. Die Welt gehört den Jungen. Sie haben die Kraft und Neugierde und haben ihr Leben noch nicht gelebt. Wir werden von den Jungen abhängig sein, ­also sollten wir ihnen Sorge tragen. Darum denke ich, wenn wir einmal 80 ­geworden sind, ist es Zeit.

Sie sprechen anderen das Recht ab zu leben. Das ist eine gefährliche Position.
Eine gefährliche und schwierige Position, ja. Aber ich glaube wirklich, bei der Entwicklung, die wir machen, müssen wir solche Gedanken sehr ernst nehmen. In Holland redet man darüber.

In Ihren Ausführungen zum Alter sind Sie radikal: Sie sagen, dass Sie niemanden kennen, der nach dem 80. Altersjahr noch etwas Nützliches geleistet habe. Wollen Sie provozieren?
Künstler haben die Verantwortung, zu provozieren. Ein Künstler versucht, uns eine Alternative gegen den Status quo zu geben. Oder der Künstler riskiert mit dem, was er zeigt, etwas, das die Menschen selber sich nicht trauen.

Ist es nichts wert, wenn die über 80-jährigen Grosseltern ihre Enkel betreuen?
Wenn die Grosseltern die Wiege ihrer Enkel schaukeln, ist das in Ordnung. Aber Menschen, die auch im hohen Alter noch etwas zu sagen haben, sind zumindest ungewöhnlich selten. Ich glaube, dass wir im Wesentlichen hier sind, um uns fortzupflanzen, ob wir nun eine Fliege oder ein Mensch sind. Für Frauen sind 45 Jahre die Grenze, bei den Männern ist es länger möglich. Aber es gibt eine Grenze der Fruchtbarkeit.

Das Leben ist doch mehr als Kinder bekommen!
Jemand, der sich fortpflanzt, erfüllt in einem darwinistischen Sinn seine Funktion: Setzen Sie Kinder in die Welt, stellen Sie sicher, dass diese ebenfalls Kinder haben, dann können Sie gehen. Dann haben Sie wirklich Ihren Wert als, wie ich es nenne, «professioneller» Mensch bewiesen. Im 15. Jahrhundert starben die Menschen nicht an Krebs oder Herzkrankheiten. Die Frauen starben um die Zeit, als sie die Menopause erreichten, und die Männer starben etwa im gleichen Alter. Es war ausgeglichen. Heute hat sich das geändert.

Sie sprechen das 15. Jahrhundert an. Wir leben nicht mehr im Mittelalter.
Richtig. Damals waren die Vorstellung vom Tod und der Anblick von Toten viel geläufiger. Zum Beispiel gab es öffentliche Hinrichtungsstätten. Die Leute starben ständig, an Krankheiten, die Frauen im Kindbett. Den Menschen waren solche Erlebnisse viel näher. Wie viele Tote sehen wir in unserem Leben? Ich war beim Tod meines ersten Schwiegervaters anwesend, ich sah meine Mutter und meinen Vater sterben. Die Toten werden heute verdrängt. Man will nichts von ihnen wissen. Es würde uns, unserer Zivilisation und unserer Haltung gegenüber Leben und Tod und unserer Humanität sehr guttun, wenn wir vertrauter wären mit den Prozessen von Sterben und Tod.

Würden Sie Ihr Leben ändern, wenn Sie wüssten, dass Sie in drei Wochen sterben?
Es wäre sicher ein Fokus. Lassen Sie mich dazu einen Vergleich machen. Ich hatte gerade eine grosse Ausstellung über Koffer. Stellen Sie sich vor, sie leben in einem totalitären Staat. Man kommt Sie holen, Sie wissen nicht, was passieren wird. Sie haben fünf Minuten, um einen kleinen Koffer zu packen. Was nehmen Sie mit? Ihre Pornohefte-Sammlung, Ihre Barbiepuppen? Oder raffen Sie Ihr Geld zusammen? Das ist wahrscheinlich reine Zeitverschwendung. Sie können nicht Ihr Haus mitnehmen und auch nicht Ihren Hund. Was ist wertvoll in Ihrem Leben? Ich habe den Verdacht, dass man versuchen würde, sein Leben so weiterzuleben wie bisher. Denn es ist keine gute Idee, in Panik zu geraten und alle um dich herum in Sorge zu versetzen.

Welches wäre denn die beste Art zu sterben?
Zuerst muss man sich darüber klar sein, was für einen wertvoll ist. Für mich ist meine Familie das Wichtigste. Es sind die Menschen, die man ­zurücklässt, die leiden. Man muss also einen Weg finden, um es ihnen so erträglich wie möglich zu machen. Ich würde wahrscheinlich daran scheitern.




Zu Peter Greenaway
Der Brite Peter Greenaway, Jahrgang 1942, ist einer der grossen Filmregisseure unserer Zeit. Bekannte Werke sind unter vielen anderen «Der Kontrakt des Zeichners», «Der Bauch des Architekten» oder «Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber». Seine Spielfilme kreisen um die Themen Kunst, Sex, Religion, Gewalt und Tod. In den letzten Jahren machte Peter Greenaway auch mit multimedialen Gesamtkunstwerken und Installationen auf sich aufmerksam, etwa mit dem Projekt «The Tulse Luper Suitcases» über das Leben von Tulse Luper und den Inhalt seiner 92 Koffer und nun dem Basler Totentanz. Peter Greenaway lebt mit seiner Familie in Amsterdam.

Karin Müller

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