«Wir dürfen den Dialog nicht unterbrechen»
Vom Münsterhügel hinunter an den Rhein – der Blick richtet sich unwillkürlich auf die eindrücklichen, in Weiss gehaltenen Roche-Türme. Später geht’s im Schatten der Bäume weiter entlang dem St.-Alban-Dych, wo im Mittelalter die Mühlen klapperten. So inszenieren sich die ersten Kilometer der Pilgerreise von Basel nach Genf – angeführt von Seyran Ateş, einer liberalen Muslimin, begleitet von Kirchenrätin Anita Vögtlin und rund dreissig Mitpilgernden.
Ebenfalls mit dabei: drei Männer und eine Frau vom Berliner Personenschutz. Eigentlich absurd – denn die Pilgerreise steht ganz im Zeichen von Religionsfreiheit und Frieden – und dennoch unerlässlich. 1984 wurde Seyran Ateş angeschossen und lebensgefährlich verletzt, weil sich die damals 21-Jährige für Frauenrechte im Islam einsetzte. Seither wird die heutige Juristin, Autorin und Geschäftsführerin der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin immer wieder mit dem Tod bedroht.
Laufend im Gespräch
«Pilgern gehört zwar zu den fünf Säulen des Glaubens im Islam», sagt Seyran Ateş. «Als liberale Muslimin möchte ich allerdings nur ungern nach Mekka pilgern.» So habe sie für sich die christlichen Pilgerwege entdeckt, sozusagen eine Alternative, auf denen Frauen und Männer nicht separiert sind und es auch kein Verhüllungsdiktat gibt.
Pilgernd war sie schon in Frankreich und Norwegen unterwegs. «Meine bisherigen Pilgerreisen haben in mir nur positive Dinge ausgelöst und mich darin bestätigt, wie schön es ist, in der Natur zu sein und den Körper zu bewegen. Denn dann bewegt man auch den Geist. Man kann sich im Gehen – das haben die deutschen Dichter und Denker schon vor mir erlebt – mit anderen bestens unterhalten und über Gott und die Welt philosophieren. Pilgern hat für mich sehr viel Spirituelles, ich spüre eine besondere Nähe zu Gott.»
Die Pilgerreise von Basel nach Genf stehe unter dem Motto «walk & talk», laufen und reden, fügt sie an. Dabei kommen auch heikle und kontroverse Themen zur Sprache. Zum Vorwurf aus der politisch grünen Berliner Ecke, sie habe im November 2018 in Wien ohne Not bei der Freiheitlichen Akademie der FPÖ, der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs, einen Vortrag über den politischen Islam gehalten, sagt Ateş: «Die Grünen haben das – aus meiner Sicht aus politischem Kalkül heraus – als rechtsgerichtete Orientierung ausgeschlachtet und mich in die rechte Ecke gestellt. Dabei geht es mir darum, mit allen zu sprechen.» Nicht alle seien ihre Freunde, aber sie wolle diese Leute verstehen. Sie spreche ja auch mit türkischen Rechtsextremen und mit Islamisten. Es sei wichtig, den Dialog nicht zu unterbrechen.
«Als liberale Muslime müssen wir gleichzeitig versuchen, eine Gegenbewegung zu schaffen und uns mit den Leuten solidarisieren, die für Frieden in den Religionen und Kulturen einstehen.» Den FPÖ-Leuten habe sie überdies gesagt, sie würde sich nicht vor einen islamfeindlichen Karren spannen lassen. «Der Dialog hat für mich dort Grenzen, wo Intolerante von mir Toleranz erwarten, wo der Dialog einseitig wird und nur von einer Seite Forderungen gestellt werden.»
Nahtoderlebnis
Als Seyran Ateş vor vierzig Jahren ihr Engagement für Gerechtigkeit um ein Haar mit dem eigenen Tod bezahlte, hatte sie ein Nahtoderlebnis, das aus ihrer Sicht schöner nicht hätte sein können. «Ich hatte direkten Kontakt zu Gott und durfte entscheiden, ob ich ins Leben zurück oder ins Licht und Glücksgefühl will. Ich habe mich für das Leben entschieden.» Seither wolle sie Menschen dazu ermuntern, sich nicht von der Angst vor dem Tod treiben zu lassen. «Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod. Das Einzige, wovor ich Angst habe, ist, dass ich nicht lange genug lebe, um bestimmte Dinge noch zu tun.»
Nach 320 Kilometern Fussweg, zahlreichen Gesprächen mit Mitpilgernden sowie mehreren Treffen mit politischen und kirchlichen Würdenträgern trifft Seyran Ateş am 19. September in Genf ein, wo sie der UNO eine Petition für Religionsfreiheit übergibt.
«Wir dürfen den Dialog nicht unterbrechen»