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«Die Menschen schlafen, solange sie leben. Erst wenn sie sterben, erwachen sie.»

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01.01.2016
Gian Domenico Borasio ist einer der führenden Palliativmediziner der Schweiz und Deutschland. Sein Buch «Über das Sterben» wurde zum Bestseller.

Herr Borasio, Sie haben eben im Vortrag die Zuhörer wählen lassen zwischen einem schnellen Herzinfarkt, einem mittelschnellen Tod nach einer schweren Krankheit wie Krebs und einem langsamen Tod, der sich über zehn Jahre erstreckt, wie ihn viele Demenzkranke erleiden. Welchen würden Sie wählen?
Die zweite Variante: Den Tod an Krebs bei klarem Bewusstsein und mit palliativer Begleitung.

Das ist erstaunlich, die meisten wünschen sich ein rasches Sterben, am besten innerhalb von Sekunden.
Das zeigt die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Nur 5 Prozent werden an einem raschen Tod sterben.

Die meisten hoffen, zu Hause sterben zu können.
Dies ist gemäss Studien aus Deutschland nur für eine Minderheit von 25 Prozent der Bevölkerung möglich. 43 Prozent sterben im Krankenhaus, 20 bis 25 Prozent in einem Alten- und Pflegeheim. Wer zu Hause sterben will, sollte eine Tochter haben. Die Statistik zeigt, In aller Regel pflegen die Frauen, nicht die Männer ihre Angehörigen. Stellen Sie sich also rechtzeitig mit Ihrer Tochter oder Schwiegertochter gut.

Sie arbeiten in einer Palliativ-Klinik und begleiten Sterbende. Verändert einen der tägliche Umgang mit dem Tod?
Man wird im Alltag gelassener. Dieses Bewusstsein um die eigene Endlichkeit ist ein grosses Geschenk. Der entscheidende Vorteil unserer Arbeit ist, dass wir die einmalige Chance haben, von unseren sterbenden Patienten das Leben zu lernen.

Und was lernen Sie?
Der ehemalige Leiter der evangelischen Seelsorge am Klinikum Grosshadern, Peter Frör, hat diese Frage einmal mit einem Satz aus einem arabischen Gedicht beantwortet. «Die Menschen schlafen, solange sie leben. Erst wenn sie sterben, erwachen sie.» Der Pfarrer fügte hinzu: «Sterbende, die ihr Erwachen zulassen, nehmen uns mit hinein in eine Welt, in der eine andere Wachheit herrscht, als wir sie sonst kennen. Ich lerne etwas von der Dringlichkeit der Zeit. Der Wert dessen, was jetzt ist, wird dafür umso wichtiger.»

Das zu wissen, tut sicher gut. Aber gelingt dies, wenn ich die Diagnose erhalten habe, dass ich unheilbar erkrankt bin?
Durchaus. Ich möchte Ihnen dies mit einer Geschichte eines Patienten illustrieren: Herr M. war ein erfolgreicher Geschäftsmann, bevor er mit 48 Jahren an amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankte. Die ALS ist eine unheilbare Krankheit mit fortschreitendem Muskelschwund und Lähmungen, die in zwei bis drei Jahren zum Tode führt. Bei seinem ersten Besuch war die Erkrankung schon fortgeschritten, seine Arme und Beine waren gelähmt. Umso mehr erstaunte mich seine friedvolle Ausstrahlung. Er erzählte mir, dass er nach der Diagnose eine schwere Depression mit Suizidgedanken durchlitten hatte. «Wissen Sie», sagte er mir, «so komisch es klingt, aber ich meine, dass meine Lebensqualität heute besser ist als vor der Erkrankung, trotz meiner schweren Behinderung. Damals hatte ich keine Zeit, war erfolgreich und gestresst. Jetzt habe ich viel Zeit. Und habe vor allem gelernt, in dieser Zeit zu leben, einfach da zu sein.»

Erfuhr er kurz vor seinem Tod so etwas wie Glück?
Er fühlte sich in der Tat nicht unbedingt «glücklicher», im allgemeinen Sinne des Wortes. Seine Behinderung, seine fortschreitende Atemlähmung, die Angst, seine Sprechfähigkeit zu verlieren, war ihm sehr wohl schmerzhaft bewusst. «Aber», sagte er zu mir, «das ist es genau, worum es geht: Bewusstheit. Wenigstens bin ich mir jetzt dessen bewusst, was ich erlebe, und kann daher auch kleine Freuden viel intensiver geniessen.» Für mich war dies ein Schlüsselerlebnis.

Die Lebensqualität vor dem Sterben hat nicht nur mit der medizinischen Versorgung zu tun?
Wir haben die Patienten gefragt, welche Lebensbereiche denn am wichtigsten für ihre Lebensqualität sind. Die Antworten fielen klar aus: Die wichtigsten Lebensqualitätsbereiche sind Gesundheit und Familie. Überraschend war, dass sämtliche der Befragten die Familie angaben, aber nur 53 Prozent die Gesundheit. Menschen, die den Tod vor Augen haben, entdecken die Wichtigkeit der anderen. Praktisch alle schwerstkranken Menschen zeigen, unabhängig von ihrer Religion oder der Art ihrer Krankheit, eine Verschiebung ihrer persönlichen Wertvorstellungen hin zum Altruismus christlich formuliert hin zur Nächstenliebe.

Im Angesicht des Todes erkennen die Menschen also, worauf es wirklich ankommt.
Ja. Das besagen auch die Religionen. Im Psalm 90 steht: «Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.» Auch Buddha sagte: «Von allen Meditationen ist die über den Tod die höchste.» Wenn man über den Tod nachdenkt, tauchen spirituelle Themen wie von selbst auf.

Öffnet das Sterben einem die Augen?
Ja. Manchmal ist dies auch schmerzlich. Dame Cicely Saunders, die vor sechs Jahren verstorbene Begründerin der Pal­lia­tivmedizin, sagte einmal: «Es ist nicht das Schlimmste für einen Menschen, festzustellen, dass er gelebt hat und jetzt sterben muss. Das Schlimmste ist, festzustellen, dass man nicht gelebt hat, und jetzt sterben muss.» Nebenbei: Dame Cicely Saunders hätte meines Erachtens den Nobelpreis für Medizin wesentlich mehr verdient als viele Molekularbiologen, die nie einen Patienten gesehen haben.

Sie tönen es an. Die Palliativmedizin, die ganzheitliche Fürsorge für Unheilbare, ist ein junges Fach. Lange Zeit wurde sie belächelt und auch kritisiert.
Die Palliativmedizin stellt der modernen, technologisch und pharmakologisch orientierten Medizin unbequeme Fragen: Ist wirklich immer alles sinnvoll, was machbar ist?

Mit dieser Frage stösst die Palliativmedizin in der Gilde der Schulmedizin nicht auf besondere Begei­ster­ung?
Die Fragen muss man trotzdem unbedingt stellen. In letzter Zeit sind zudem erstaunliche neue Erkenntnisse hinzugekommen. Im August 2010 wurde in der angesehensten medizinischen Fachzeitschrift der Welt, dem «New England Journal of Medicine», eine Studie publiziert, bei der zwei Gruppen von Patienten mit fortgeschrittenem Lungenkrebs verglichen wurden. Die erste Gruppe bekam die übliche Therapie. Bei der zweiten Gruppe wurde frühzeitig die Palliativmedizin in die Betreuung integriert. Die Patienten in der Gruppe mit Palliativbetreuung hatten eine bessere Lebensqualität und bekamen weniger häufig Chemotherapie am Lebensende, was eine Kostenreduktion bedeutet. Frappierend war zudem, dass die Patienten in der Palliativgruppe ausserdem eine signifikant längere Überlebenszeit im Vergleich zur Kontrollgruppe aufwiesen. Der Unterschied betrug fast drei Monate.

Das ist auch ein medizinischer Erfolg.
Ja. Ein solches Ergebnis würde bei Medikamentenstudien als wegweisender Therapieerfolg gelten. Und das entsprechende Medikament würde weltweit mit grossem Aufwand beworben werden. Aber da es sich um die Palliativmedizin handelt, ist dieses Ergebnis natürlich für die Pharmaindustrie nicht gerade Umsatz fördernd.

Der medizinische, psychosoziale und spirituelle Ansatz der Palliativmedizin ermöglicht auch ein würdiges Abschiednehmen.
Ja. Die Möglichkeit des guten Abschiednehmens erspart den Angehörigen eine erschwerte Trauerphase, den Kindern möglicherweise manchmal sogar eine ernsthafte psychische Traumatisierung. Das Erlebnis einer würdevollen und friedlichen Sterbephase beeinflusst die Einstellung der Angehörigen zu Tod und Sterben für die Dauer ihres Lebens. Auch und gerade das ist Palliativmedizin.

Beim Tod von Angehörigen hält man Kinder oftmals davon fern. Man will sie nicht belasten.
Das Thema Kinder ist etwas ganz Besonderes. Man kann nämlich mit Kindern oft viel unbeschwerter und unbefangener über den Tod reden als mit Erwachsenen. Es ist sehr wichtig, dass Kinder sich mit diesem Thema beschäftigen dürfen und dass es in der Schule und in der Familie nicht tabuisiert wird. Die Veränderung der Sterbekultur in unserer Gesellschaft kann nur gelingen, wenn sie bei den Kindern beginnt. tilmann zuber


Das Interview entstand anhand eines Vortrags, den Gian Domenico Borasio anlässlich der Hodler-Ausstellung in der Fondation Beyeler hielt.

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