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Herbert-Haag-Preis für Rita Perintfalvi

«Die Kirchen haben ihre Freiheit völlig verloren»

von Christa Amstutz/reformiert.info
min
06.10.2025
Die katholische Theologin Rita Perintfalvi erhält den Herbert-Haag-Preis für Freiheit in der Kirche. Mit ihrem Engagement für Missbrauchsopfer und Minderheiten steht sie in ihrer Heimat Ungarn stark unter Druck. 

Sie erhalten den Herbert-Haag-Preis 2026 für Freiheit in der Kirche. Wie fühlt sich das an?

Das ist für mich eine grosse Ehre. Und nachdem, was ich im August erleben musste, auch eine Art Gnade.

Was ist passiert?

In Ungarn wurde von fünf rechtsextremen Medienportalen eine Rufmordkampagne gegen mich lanciert mit einem Pornovideo der abscheulichsten Kategorie. Die Darstellerin ähnelt mir. Eingeblendete Fotos von mir sollten belegen, dass ich das sei im Video. Das Machwerk wurde auf den sozialen Medien als Virus breit geteilt. Ich habe sofort Anwälte eingeschaltet und Strafanzeige erstattet. Zum Glück gab es eine starke Solidaritätsaktion. Sehr viel Politikerinnen, Künstler und zivilgesellschaftliche Akteurinnen haben sich öffentlich für mich eingesetzt. Trotzdem fühlte ich mich völlig entwürdigt und war zutiefst erschüttert. Als ich dann vom Preis erfuhr, dachte ich: Gott, du sorgst doch für mich, du hast mich nicht vergessen.

 

Rita Perintfalvi arbeitet in Budapest als Theologin, Forscherin, Publizistin und Bloggerin. Sie ist Präsidentin der ungarischen Sektion der Europäischen Gesellschaft für Theologische Forschung von Frauen und Mitbegründerin der ungarischen Basisgemeinschaft «Kreise der Freiheit». Die katholische Theologin hat in Wien promoviert und war an der Universität Graz im Bereich Theologische Geschlechterforschung tätig.

 

Warum werden Sie derart angegriffen? Sie waren zuvor schon immer wieder auch Drohungen ausgesetzt.

2021 habe ich ein Buch veröffentlicht, in dem Missbrauchsopfer von katholischen Priestern in Ungarn ihre Leidensgeschichten erzählen. Schon bevor das Buch erschien, wurde ich in regierungsnahen Medien massiv kritisiert, von erzkonservativen christlichen Journalisten und Bloggern angefeindet und desavouiert und von rechtsextremer Seite mit Gewalt bedroht.

Trotzdem führen Sie Ihr ehrenamtliches Engagement für Missbrauchsopfer fort.

Das werde ich niemals aufgeben! Nach dem Missbrauchsgipfel von Papst Franziskus 2019 wurde das Problem von András Veres, dem damaligen Präsidenten der Bischofskonferenz, in Bezug auf Ungarn kleingeredet. Erst 2024 gab es Entschuldigungen. Seit drei Jahren leite ich zusammen mit der Psychologin Andrea Heves eine Opferschutzgruppe. Für unsere unbezahlte Arbeit haben wir bis heute seitens der Kirche keinerlei finanzielle oder moralische Unterstützung erhalten.

Momentan arbeiten Sie intensiv an Ihrer Habilitation. Sie dreht sich um Macht und Befreiung, Sexualität und Politik in der ungarischen katholischen Kirche. Damit werden Sie sich ebenfalls nicht beliebt machen.

Ja, klar. Vor allem, weil ich das Thema im Kontext des Rechtspopulismus und religiösen Fundamentalismus angehe. Aber ich kann nicht anders. Es ist ein Skandal, wie die Menschenrechte in Ungarn inzwischen eingeschränkt sind.

Vor allem in diesem Jahr scheint viel passiert zu sein. Was genau?

Neu wurde in der Verfassung festgeschrieben: Der Mensch ist entweder Mann oder Frau. Und in den Begründungen steht auch noch «in der Reihenfolge der biblischen Schöpfung». Das heisst die Frau kommt nach dem Mann. Pride-Paraden wurden schon zuvor verboten. Das alles läuft unter dem Thema Kinderschutz. Kinderschutz ist das Hauptthema der Regierung unter Orban.

Was wird denn wirklich getan von der Regierung für den Schutz der Kinder? Im Bereich Missbrauch, wie es scheint, nicht allzu viel.

Das Ganze ist pure Ideologie. Getan wird nichts für den Schutz der Kinder. Stattdessen wird propagiert: die Frauen sollen zurück an den Herd und sich um die Kinder kümmern. Und alle sollen möglichst viele Kinder bekommen, was finanziell stark unterstützt wird.

Die Kirchen scheinen kein Problem zu haben mit dieser Politik, die sich auf christlich konservative und nationalistische Werte beruft. Wie kommt das?

Zum einen teilen die Kirchen viele der konservativen Werte. Zum anderen sind sie finanziell völlig abhängig von der Regierung. Die Kirchensteuer in Ungarn ist nur ein symbolischer Betrag. Die Arbeit der Kirchen im Bildungs- und Sozialwesen ist aber systemrelevant und wird vom Staat getragen. Doch durch das neue Kirchengesetz von 2011 können sie diese Unterstützung jederzeit verlieren. Es reicht eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, um einer Religionsgemeinschaft den Kirchenstatus zu entziehen. Die Situation ist wirklich schwierig für die Kirchen. Sie haben ihre Freiheit verloren, genau wie unter dem kommunistischen Regime. Der einzige Unterschied ist, dass das Regime Orban kirchenfreundlich scheint. Tatsächlich aber zerstört es die Glaubwürdigkeit der Kirchen völlig.

Betrifft diese Situation nur kleinere Gemeinschaften oder auch grosse Kirchen?

Während der Flüchtlingskrise 2015, als Tausende Menschen wochenlang im Budapester Bahnhof Keleti festsassen, haben die Kirchen fast nichts gemacht. Es waren Private und Organisationen der Zivilgesellschaft, die den Menschen halfen. Der lutherische Bischof Tamás Fabiny rief damals zum Engagement auf und erinnerte daran, dass Flüchtlingsarbeit eine christliche Kernaufgabe sei. Darauf wurde er von Orban zum Gespräch zitiert, mit Finanzkürzungen für seine Kirche konfrontiert, die noch viel umfassender würden, sollte er sich weiter zum Thema äussern.

Ist Ungarn schon eine Diktatur? Zahlreiche Grundrechte wurden eingeschränkt, die Verfassung derart ausgehöhlt, dass ein Machtwechsel schwierig scheint.

Im Moment ist Ungarn wohl noch eine Art Wahlautokratie, eine Softdiktatur. Ein sehr wichtiges Korrektiv ist weiterhin die EU-Mitgliedschaft, für die ich sehr dankbar bin. Doch auch in der Politik im Land gibt es Bewegung. Nach einem riesigen Pädophilie-Skandal im Februar 2024 mussten die Staatspräsidentin, die Justizministerin und der reformierte Bischof Zoltan Balog als Synodenpräsident zurücktreten, weil sie sich für die Begnadigung eines Vertuschers von sexuellem Missbrauch ausgesprochen hatten. Damals ist unter Peter Magyar eine neue Partei, Tisza, entstanden, auf die ich grosse Hoffnungen setze für die Wahlen im nächsten Jahr. Zudem haben zwei wichtige Glaubensumfragen ergeben, dass sich 85 Prozent der Kirchenmitglieder mehr Abstand zur Politik wünschen. Auch das lässt mich hoffen.

Was setzen Sie als Theologin und Christin der gegenwärtigen Politik in Ungarn entgegen?

Ich glaube an das Herz des Evangeliums: Wir sollen bedürftigen Menschen helfen. Dabei leitet mich an das Jesuswort: «Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.» (Mt. 25,40). So viele Gruppen leiden heute in Ungarn: LGBTIQ-Menschen, Roma, Muslime und Musliminnen, Feministinnen und überhaupt Andersdenkende. Oder auch Obdachlose: Seit 2018 gelten sie als Kriminelle. 

 

Herbert-Haag-Preis 2026

Die Stiftung für Freiheit in der Kirche wurde 1985 vom Schweizer Theologen Herbert Haag (1915–2001) gegründet. Sie will einen aufgeschlossenen und ökumenisch gesinnten katholischen Glauben unterstützen. Daran orientiert sich auch die Vergabe des Preises, der mit je 10'000 Franken dotiert ist. Neben Rita Perintfalvi wird in diesem Jahr der bekannte österreichische Amazonas-Bischof Erwin Kräutler für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Die Preisverleihung findet am 22. März 2026 in Luzern statt.

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