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Politik

«Die Leistungen kommen der gesamten Gesellschaft zu Gute»

von Cornelia Krause / reformiert.info
min
22.11.2023
Die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr über eine neue Studie, die Leistungen der Kirchen für die Gesellschaft beleuchtet. Die Erhebung ist relevant für die Staatsbeiträge.

Die sogenannte Widmer-Studie präsentiert ein durchwachsenes Bild: Einerseits zeigt sie auf, dass die Landeskirchen weiterhin wichtige gesellschaftliche Akteure sind und ihre Angebote auf breiten Rückhalt in der Bevölkerung stossen. Andererseits bescheinigt sie ihnen aber auch eine «Erosion der öffentlichen Rolle». Welche Konsequenzen hat das für die Staatsbeiträge, die die Landeskirchen erhalten?   

Das lässt sich jetzt noch nicht sagen. Das Vorgehen für diesen Entscheid ist mehrstufig: Ich stelle einen Antrag an die Regierung, diese wiederum an den Kantonstrat und der wird in knapp einem Jahr darüber entscheiden. Wie genau mein Antrag aussehen wird, kann ich noch nicht sagen. Aber er wird sich neben der Widmer-Studie auf weitere Elemente und Kriterien stützen.   

Sie spielen auf eine zweite Studie an, die Ihre Direktion und die Kirchen an der Universität Zürich bei den Fachbereichen Soziologie und Religionswissenschaften in Auftrag gegeben haben. 

Genau. Die zweite Studie untersucht nicht-monetäre Aspekte der religiösen Tätigkeit, die für die Gesamtgesellschaft wichtig sind. Da geht es etwa um den sozialen Zusammenhalt, die Vermittlung von Werten oder Spiritualität. Zusätzlich geht es bei dem Entscheid über die Höhe der Staatsbeiträge auch um politische Überlegungen, die gemacht werden müssen. Volksabstimmungen, die es gab, das bisherige Bekenntnis zur Kirche.

Wenn eine kleiner werdende Organisation mehr Menschen versorgen muss, dann ist es nicht logisch, dass sie dafür weniger Geld bekommt.

Inwiefern spielen die schrumpfenden Mitgliederzahlen der Kirchen eine Rolle? 

Keine. Denn die Gelder, die der Staat der Kirche zur Verfügung stellt, sind Gelder für Leistungen, die der gesamten Gesellschaft zu Gute kommen. Also nicht nur den Mitgliedern, sondern allen Menschen. Eine wichtige Überlegung ist dabei: Die Bevölkerung insgesamt wächst. Die Kirche dagegen schrumpft. Wenn eine kleiner werdende Organisation mehr Menschen versorgen muss, dann ist es nicht logisch, dass sie dafür weniger Geld bekommt.

 

Die «Widmer-Studie» der Universität Zürich

Die beiden Landeskirchen des Kantons Zürich erhalten vom Kanton insgesamt 50 Millionen Franken pro Jahr für Leistungen mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. 2017 erhob die sogenannte «Widmer-Studie» der Universität Zürich bei der Evangelisch-reformierten Landeskirche und der Römisch-katholischen Körperschaft Umfang, Bedeutung und Qualität dieser Leistungen. Erarbeitet hatte die Studie ein Forscherteam um Professor Thomas Widmer, dem Leiter des Bereichs Policy-Analyse und Evaluation. Damals hielt die Studie fest, dass der Aufwand der Kirchen für ihre Leistungen höher ist als die Summe, die die Kirchen vom Staat dafür bekommen. 

Ende 2024 entscheidet der Kanton über die Höhe der Gelder für die neue Finanzierungsperiode 2026 bis 2031. Deshalb gaben die Direktion der Justiz und des Innern unter Regierungsrätin Jacqueline Fehr, die Evangelisch-reformierte Landeskirche und die Römisch-katholische Körperschaft gemeinsam eine neue Studie in Auftrag, die nun veröffentlicht wurde. Für die Erhebung befragte das Team um Widmer Vertreter politischer Gemeinden, Kirchgemeinden und kantonale Fachstellen sowie die Bevölkerung. 

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie: Die Kirchen erbringen in ähnlichem Rahmen wie 2017 Leistungen für die Gesellschaft, etwa Jugendarbeit, Sozialberatungen oder Bildung. Diese Angebote nahmen in den letzten Jahren in gewissen Bereichen sogar zu. Die Tätigkeiten der Kirchen sind grundsätzlich gut legitimiert und bei den Gemeinden und der Bevölkerung sehr erwünscht. Und sie stossen auch bei Personen auf Anklang, die sich nicht mit dem christlichen Glauben identifizieren. Auch die Gemeinden sind mit dem Angebot und dem Umfang der kirchlichen Leistungen mehrheitlich zufrieden. Allerdings nutzen im Vergleich zu 2017 weniger Menschen die Angebote, vor allem Menschen unter 45-Jahren werden offenbar schwerer erreicht. Der Studie zufolge hat die Bedeutung der Kirchen als öffentlich sichtbarer Akteur abgenommen. Das zeige sich unter anderem darin, dass das Wissen um die Angebote abnimmt. Zu einem harten Urteil kommt die Studie mit Blick auf die Rolle der Kirchen während der Coronapandemie: Zu sehr hätten sie primär auf staatliche Massnahmen reagiert, zu wenig eine aktive Rolle übernommen.

Die Studienautoren empfehlen den staatlichen Stellen, unter anderem angesichts sinkender Mitgliederzahlen der Kirchen und der abnehmenden Präsenz kirchlicher Institutionen «den bisherigen finanziellen Rahmen zu diskutieren.»

 

Wie beurteilen Sie die grössere Distanz, welche die Widmer-Studie den Kirchen zur Bevölkerung bescheinigt?  

Weder in der Widmer-Studie noch sonst irgendwo gibt es Hinweise darauf, dass die gesamtgesellschaftlichen Leistungen der Kirchen weniger erwünscht sind. Es gibt den Befund, dass sich jüngere Menschen der Leistungen vielleicht nicht mehr so bewusst sind, die Angebote schlicht nicht so gut kennen. Das ist vielleicht auch eine Frage der Kommunikation. Hinzu kommt, dass die Gemeinden nach wie vor sehr froh sind, dass die Kirchen Mittagstische, Altersarbeit und einen grossen Teil der Jugendarbeit übernehmen.   

Wir sind uns sehr bewusst, dass die Kirche viel besser Freiwilligenarbeit generieren kann, als das der Staat könnte.

Und dabei auch vom Engagement Freiwilliger profitieren. 

Ja. Wir sind uns sehr bewusst, dass die Kirche viel besser Freiwilligenarbeit generieren kann, als das der Staat könnte. Die Kosten der Leistungen durch die Kirche sind tiefer, als wenn sie der Staat erbringen würde. Auch das sind Überlegungen, die mit Blick auf die Staatsbeiträge mitspielen.   

Recht hart geht die Widmer-Studie mit den kirchlichen Leistungen während der Corona-Pandemie ins Gericht. Wie beurteilen Sie die Kritik? 

Bei diesem Teil der Studie habe ich Vorbehalte. Er deckt sich nicht mit meinen eigenen Erfahrungen. Ich habe die Kirchen in der Pandemie als aktiv und hörbar erlebt. Sie haben sich für die sozialen Räume eingesetzt und dafür, dass es Treffen gibt. Wie es zu diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen gekommen ist, weiss ich nicht.

In der Diskussion sind immer wieder auch Glaubensgemeinschaften ohne öffentlich-rechtliche Anerkennung, die ja keine Staatsbeiträge erhalten. Könnte sich das ändern? 

Nein, die Möglichkeit, direkte Staatsbeiträge an die nicht anerkannten Religionsgemeinschaften zu geben, besteht nicht. Aber im Rahmen der Staatsbeiträge an die anerkannten Religionsgemeinschaften können wir den interreligiösen Dialog stärken. Schaut man sich die Weltlage an, dann ist das eine wichtige Aufgabe zu Gunsten der Gesamtgesellschaft. Die anerkannten Religionsgemeinschaften können mit diesen Staatsgeldern auch einen erheblichen Beitrag zum religiösen Frieden leisten. 

Was heisst für Sie «religiöser Frieden»?

Religiöser Frieden heisst ein funktionierender interreligiöser Dialog mit den muslimischen und anderen Gemeinschaften, die hier etabliert sind. Welche Aufgaben die Kirchen und die anerkannten Religionsgemeinschaften in dem Bereich übernehmen, wird eine wichtige Überlegung sein. Denn der Religionsfrieden ist nicht in Stein gemeisselt, der braucht permanente Pflege und Aufmerksamkeit. Das ist eine sehr wichtige Aufgabe für die Zukunft. 

 

Zuständig für Religionsgemeinschaften und Kirchen

Jacqueline Fehr (60) ist seit 2015 Zürcher Regierungsrätin und leitet die Direktion der Justiz und des Inneren. Damit ist sie auch für die Beziehungen des Kantons Zürich zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften zuständig.  Die SP-Politikerin war von 1998 bis 2015 Nationalrätin und von 2008 bis 2015 Vizepräsidentin der SP Schweiz. 

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