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Pfarrer Marcel Köppli

Mit farbigen Socken durchs Leben

von Carole Bolliger
min
30.10.2025
Nach einer Hirnblutung musste Pfarrer Marcel Köppli vieles neu lernen – denken, glauben, Einschränkungen akzeptieren. Heute steht er noch verwurzelter in der Matthäuskirche Luzern, mit geschärftem Blick auf das Leben und seinen Beruf.

Ein klarer Herbstmorgen in der Matthäuskirche. Pfarrer Marcel Köppli steht vorne im Chorraum. «Ich habe das Leben nie auf später verschoben, aber dieses Ereignis hat mich gelehrt, noch mehr im Jetzt zu leben, noch mehr für alles dankbar zu sein, was mir gegeben ist», sagt er nachdenklich. Das Ereignis, das er anspricht, liegt fünf Jahre zurück. Aus dem Nichts erlitt Köppli eine Hirnblutung. Ein Moment, der alles veränderte und doch vieles klärte. «Ich war plötzlich auf null. Drei Wochen auf der Intensivstation, unfähig, mir etwas zu merken.» Seine Familie bangte um ihn: Würde er überleben? Welche Einschränkungen würden bleiben? Würde er wieder mit seinen Kindern spielen können? Vom Spitalbett aus blickte er direkt auf den Friedhof Friedental. «Mein Umfeld wusste, ich könnte auch dort unten liegen.» Das prägt.

Kirche mit offenen Türen

Die Hirnblutung kam ohne Vorwarnung im Dezember 2020. Er sass an seinem Schreibtisch, plötzlich fiel er bewusstlos zu Boden. Es folgten kritische Tage auf der Intensivstation, mühsame erste Schritte mit dem Rollator, zahllose Tests. «Ich fragte immer wieder: Wird es wieder wie früher? Die Antwort lautete stets: ‹Wir werden sehen.›» Heute weiss er: Es wurde anders – aber nicht schlechter.

Ich weiss jetzt, wie sich Ohnmacht anfühlt. Ich weiss, was es heisst, nichts mehr kontrollieren zu können. Und ich weiss, dass es trotzdem weitergeht.

Zwischen Ernst und Leichtigkeit

Marcel Köppli ist einer, der das Leben liebt – mit all seinen Brüchen und Wundern. Seine Sätze sind durchdacht, nie belehrend, oft mit einem Augenzwinkern. «Glaube ist nichts Abgehobenes. Er ist das Vertrauen darauf, dass das Leben unverfügbar bleibt, dass uns die letzten Fragen nicht loslassen sollen – und dass das Leben trotz allem schön ist.» Köppli möchte Pfarrer für Menschen mitten im Trubel sein: Studierende, Berufstätige und Pensionierte, Zweifelnde, Suchende. Er versteht Kirche als Ort zum Auftanken. «Ich will Menschen ermutigen, ihre Fragen, ihr Staunen und ihren Glauben ernst zu nehmen.»

Köppli ist keiner, der hadert. Lieber öffnet er Türen – wortwörtlich und im übertragenen Sinn. «Viele kommen in die Kirche, weil sie einen stillen Ort suchen. Andere einfach aus ‹Gwunder›.» Er wünscht sich, dass die Kirche ein Ort bleibt, wo nicht so viel geredet, sondern mehr zugehört wird. «Nicht zuletzt den Worten der Bibel.» Dazu gehören für ihn auch neue Formen: Theatergottesdienste, zeitgenössische Kunst – und die Wiederentdeckung der Traditionen. «Wo gibt es heute noch Orte, die sich dem Gesetz von Angebot und Nachfrage entziehen? Kirche ist da, wo Menschen die grossen Fragen stellen dürfen – und wo auch die kleinen beantwortet werden: Bin ich hier willkommen? Kennt mich jemand?» Unter der Orgelempore hängt eine Leuchtschrift, die Köppli vom Luzerner Theater ausleihen durfte. «Spürst du die Höhe des Himmels?» aus der «Schneekönigin» steht dort. «Gibt es eine passendere Frage für diesen Ort?», fragt er und lacht.

Dankbarkeit und Vertrauen

Lachen helfe, den Dingen die Schwere zu nehmen. «Auch Gott hat Humor – sonst hätte er uns nicht so unterschiedlich erschaffen», sagt Köppli. Sein Lachen war das Erste, was nach der Hirnblutung zurückkam. «Ich erinnerte mich an keinen Besuch meiner Familie, aber ich konnte schon wieder Situationskomik machen.» Heute arbeitet er in einem stark reduzierten Pensum. Nach aussen wirkt er souverän, doch die Folgen der Hirnverletzung bleiben: Konzentrationsschwierigkeiten, rasche Ermüdung, Probleme mit Multitasking. «Nach 90 Minuten ist Schluss. Dann beginne ich, Namen zu verwechseln, Reihenfolgen durcheinanderzubringen.» Er musste lernen, neue Prioritäten zu setzen und wehmütig Abschied zu nehmen, etwa von der bildenden Kunst, die er einst in die Kirche brachte. Stattdessen: mehr Ruhe, Schwimmen, Begegnungen und seit kurzem ein kleiner Hund.

Im Rückblick empfindet Köppli vor allem Dankbarkeit – für seine Familie und seine Freunde, die Arbeitskolleginnen und -kollegen, die IV und die Kirche, die ihm Zeit gaben. «Ich bin allen dankbar, die ehrlich waren und mir sagten: ‹Es ist anstrengend geworden mit dir.› Nur so konnte ich lernen, meine Grenzen zu sehen und zu akzeptieren.» Die Hirnblutung war kein Bruch, sondern ein Aufbruch. «Ich begann, das Wesentliche meines Berufs noch mehr zu schätzen: zuhören, fragen, Gottesdienste feiern.»

Marcel Köppli sagt: «Früher war ich ein glücklicher Mensch. Heute bin ich ein noch glücklicherer Mensch.» Dann krempelt er sein Hosenbein hoch. An seinen Füssen: Socken mit kleinen Glückspilzen. «Die hat mir meine Pfarrkollegin geschenkt. Sie sagte: ‹Ich habe zwar nicht mehr den Kollegen, der du einst warst – aber du bist ein Glückspilz.›» Und Marcel Köppli betont, dass er, seitdem er wieder als Pfarrer arbeiten kann, prinzipiell unter seinem schwarzen Talar nur noch farbige Socken trägt. Die Erklärung: «Ich bin voll Leben, voll Dankbarkeit über das geschenkte Leben, ich will und kann nicht mehr nur Schwarz tragen.»

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