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Interview: Hans-Lukas Kieser

«Wahlen allein machen noch keine Demokratie»

von Felix Reich / reformiert.
min
18.05.2023
Der Türkeikenner Hans-Lukas Kieser glaubt nicht, dass der türkische Präsident Erdoğan die Macht freiwillig abgibt. Aber Tricks habe er gar nicht nötig, weil er auf die Unterstützung einer knappen Minderheit zählen könne.

 

Die Türkei verzeichnete bei den Präsidentschaftswahlen eine Wahlbeteiligung von 88 Prozent. Von einem solchen Wert können Demokratien in Europa nur träumen. Ist die Türkei eine demokratische Musterschülerin?

Hans-Lukas Kieser: Nein. Wahlen allein machen noch keine Demokratie aus. Der Wahlkampf war sehr intensiv, die Menschen wussten, dass es um viel geht.

Und glaubte auch die Opposition daran, dass die Wahlen frei sind und Veränderung möglich wird?

Ja und Nein. Die Wahlen waren relativ frei. Es gibt in der Türkei einen geschützten Kern an demokratischen Errungenschaften, der bisher noch funktioniert. Auch Recep Tayyip Erdoğan würde die Wahlen nicht beliebig fälschen können. Aber die Medien sind gleichgeschaltet, was antidemokratisch ist. Diesen Faktor darf man nicht unterschätzen. Erdoğan hatte vielleicht fünfzigmal so viel Redezeit in den wichtigen Medien wie sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu, der deshalb in die sozialen Medien ausweichen musste.

Es gibt keine oppositionellen Medien in der Türkei?

Nein, das gibt es nicht mehr. Es gibt wenige Sender, die etwas offener sind. Alle Stationen, die das Prädikat oppositionell verdient hätten, wurden geschlossen oder aufgekauft und gleichgeschaltet. Ein grosser Teil der Menschen, insbesondere auf dem Land, informieren sich weiterhin über die grossen Fernsehsender, die von Erdoğan kontrolliert werden.

Die Wahlen waren also frei, der Wahlkampf jedoch unfair?

Ja. Der Standard des Wahlverfahrens ist im Prinzip gut, doch naiv darf man nicht sein. Auch in den Kontrollorganen sitzen Leute an den Schlüsselstellen, die von Erdoğan abhängig sind. Der Präsident will zwar nicht als Wahlfälscher dastehen, aber wenn es knapp wird, kann niemand garantieren, dass die Behörden nicht administrative Tricks anwenden, die das Resultat beeinflussen.

Und wenn die administrativen Tricks nicht mehr ausreichen?

Dass Erdoğan seine Macht freiwillig abgibt, glauben die wenigsten Türkeiexperten. Gesetzt den Fall, dass Erdoğan bei der Stichwahl fünf bis zehn Prozent hinter seinem Herausforderer liegen würde und sich allfällige Fälschungen nicht mehr vertuschen liessen, könnte er zum Beispiel seine Leute zu Massendemonstrationen aufrufen.

Und seine Unterstützer würden gehorchen?

Erdoğan könnte sie aufstacheln, etwa indem er behauptet, die Opposition habe in einem Lokal seiner Partei einen Terroranschlag verübt. Es drohe Chaos. Dann wäre er unabhängig vom möglicherweise suspendierten Wahlausgang wieder als der starke Mann gefragt.

Sie trauen dem Staat also auch verdeckte Aktionen zu?

Auf jeden Fall. Dass Regierungen Bomben hochgehen lassen, um den Terror der Opposition in die Schuhe zu schieben, kennen wir aus der Geschichte. Die ganzen Pogrome gegen die Christen von Istanbul von 1955 begannen, weil die Regierung behauptete, Griechen hätten im Geburtshaus von Staatsgründer Kemal Atatürk in Thessaloniki eine Bombe explodieren lassen. Heute weiss man mit Sicherheit, dass der türkische Geheimdienst eine relativ harmlose Bombe gezündet hatte. Als Reaktion wurden die meisten nach dem Lausanner Vertrag verbliebenen Christen aus Istanbul vertrieben.

 

Hans-Lukas Kieser

Hans-Lukas Kieser ist Titularprofessor für Geschichte der Neuzeitinsbesondere der osmanischen und nachosmanischen Welt am historischen Seminar der Universität Zürich. Zudem ist er Assoziierter Professor an der Universität Newcastle in Australien. Kieser forscht insbesondere zur Gewaltgeschichte, Religion und Gewalt im Nahen Osten sowie zu den Kurden und zur Türkei. Er gilt als ausgewiesener Kenner der türkischen Geschichte und Politik sowie als Experte des nahöstlichen ­Umbruchs am Ende der osmanischen Ära.

 

Erdoğan steht für eine türkische Konstante: Wer an der Macht ist, verteidigt sie mit allen Mitteln.

Der Unterschied ist, dass Erdoğan seit über 20 Jahren an der Macht ist und damit viel mehr in der Hand hat, aber auch zu verlieren hat als frühere Regierungen, die viel kürzer im Amt waren.

Was hat er denn zu verlieren?

Erdoğan und seine Entourage wissen genau, was sie getan haben und dass sie bei einem Machtwechsel für manches vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden können. Das Erdbeben etwa hatte auch deshalb so katastrophale Folgen, weil die Regierung Regelverstösse der Baubranche, die ihr nahesteht, amnestierte. Aus Angst vor Prozessen verteidigen die Machthaber ihre Position noch entschiedener. Aber wir sind jetzt ja im hypothetischen Bereich gelandet. In der Realität hat Erdoğan die Täuschungsmanöver kaum nötig. Denn er kann auf eine knappe Minderheit, die dank der Medienübermacht und der Verleumdung des Gegners zur Mehrheit werden kann, zählen. Sie zieht den grossen «Führer» (reis) der Demokratie vor. Das ist die bittere Wahrheit. Gerade mit Blick auf Europa.

Sie meinen die Unterstützung, die Erdoğan in der türkischen Diaspora geniesst? Selbst in der Schweiz wählten ihn rund 40 Prozent der Türkinnen und Türken.

Es mangelt an demokratischer Einstellung und an der Empathie für die Opfer. Denn die Türkinnen und Türken in der Diaspora müssen die Repression des Regimes ja nicht aushalten. In Deutschland oder Frankreich ist die Zustimmung sogar noch grösser.

Wie erklären Sie sich die Unterstützung?

Viele Türkinnen und Türken in der Diaspora fühlen sich marginalisiert und gehören zu sozial relativ niedrigen Schichten. Andere sind selbstbezogene Nationalisten. Sie. Erdoğan gibt den starken Mann, der die Türkei und die Türken wieder zu ihrer wahren Grösse führt. Er tritt gegenüber der Europäischen Union nicht als Bittsteller auf, sondern gibt sich sehr selbstbewusst. Diese Stärke imponiert und wirkt attraktiv, denn durch den islamisch-türkischen Nationalismus erfahren seine Anhängerinnen und Anhänger selbst auch eine symbolische Aufwertung.

Angesichts dieses Machtapparats, den Sie beschrieben haben: Ist die Stichwahl vom 28. Mai damit schon entschieden?

Vor den Wahlen vom 14. Mai hatten viele reelle Hoffnungen, dass ein Wechsel möglich ist. Aber mir war immer klar: Kemal Kılıçdaroğlu braucht mehr als mathematische Mehrheit, er benötigt einen klaren Sieg. Eine ganz deutliche Niederlage müsste Erdoğan akzeptieren. In der Türkei sind, wie gesagt, Wahlen nicht beliebig manipulierbar. Aber einem Autokraten wie Erdoğan reicht eine grosse Minderheit, um an der Macht zu bleiben. Kommt hinzu, dass die jetzigen Regierungsparteien im Parlament eine satte Mehrheit erzielt haben. Die Regierungsbildung und das Regieren würde für Kılıçdaroğlu sehr schwierig.

 

Stichwahl am 28. Mai

Der Langzeitpräsident Erdoğan holte laut offiziellen Angaben bei den Wahlen vom 14. Mai um die türkische Präsidentschaft 49,51 Prozent der Stimmen. Sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu, auf den sich ein buntes Oppositionsbündnis aus sechs Parteien einigen konnten, erhielt 44,88 Prozent. Der nationalistische Aussenseiter Sinan Ogan kam auf 5,17 Prozent. Für die Stichwahl vom 28. Mai gilt Erdoğan als klarer Favorit, weil die Stimmen aus dem nationalistischen Lager wohl eher auf ihn übergehen dürften. Erdoğan war von 2003 bis 2014 Ministerpräsident der Türkei, mit einem Verfassungsreferendum führte der Politiker der islamistischen Partei AKP im Juli 2018 ein Präsidialsystem ein und setzte sich an dessen Spitze.

Kılıçdaroğlu hat sich vor den Wahlen zum Alevitentum bekennt. Tat er das aus freien Stücken oder war es eine Flucht nach vorn, um Erdoğans Angriffe ins Leere laufen zu lassen?

Beides. Erdoğan ist ein Identitätspolitiker. Er inszeniert sich als osmanischen Sultan Kalif. Da haben die Aleviten schlechte Karten. Die Sultane haben die Aleviten als Ungläubige und Verräter, die mit den schiitischen Persern im Bund stünden, verfolgt. Bisher hat Kılıçdaroğlu seine Identität verschwiegen, sonst hätte er kaum Karriere machen können. Dennoch glaube ich, dass sein Statement ehrlich war.

Identitätspolitik ist in der Türkei aber keine Erfindung des Islamisten. Auch die Kemalisten, die einen laizistischen Staat wollten, waren doch Nationalisten.

Das stimmt. Aber trotz ihres Ultranationalismus orientierten sich die Kemalisten Richtung Westen, so übernahmen sie das Schweizer Zivilgesetzbuch. Erdoğan hingegen orientiert sich nur an sich selbst und der islamisch-türkischen Geschichte.

Angenommen Kılıçdaroğlu würde die Stichwahl überraschend gewinnen. Würde sich die Türkei tatsächlich in Richtung Demokratie bewegen?

Ganz sicher würde er einige der vielen politischen Gefangenen, die eigentliche Geiseln sind, freilassen. Das wäre ein wichtiger Schritt. Für grössere Reformen fehlte ihm wohl die Unterstützung des Parlaments.

Und wie positioniert sich Kılıçdaroğlu in der Kurdenfrage?

Da war er lange auffällig stumm. Im Wahlkampf sprach er sich immerhin klar für das Recht auf die kurdische Sprache aus und bezeichnete das Parlament als den Ort, wo alle Fragen offen zu diskutieren seien. Kılıçdaroğlu kommt aus Dersim. Der Völkermord, der in den 1930er Jahren an den kurdischen Aleviten dort verübt wurde, ist in seine Familiengeschichte eingeschrieben. Er hat zwar nie öffentlich darüber gesprochen, aber es ist klar, dass er die Dersim-Erfahrung mit sich trägt und kein sunnitischer Türke ist. Deshalb kann und will Kılıçdaroğlu gar keine solche Identitätspolitik betreiben. Er will eine parlamentarische Demokratie und stellt die Religion nicht in den Vordergrund.

Welche türkischen Parteien zählen Sie zu den demokratischen Kräften?

Yeşil Sol Parti (YSP) ist eine linksliberale Partei, die sich glaubwürdig für die Demokratisierung der Türkei jenseits identitärer Politik einsetzt. Dies trifft auch auf Ali Babacans liberale Deva-Partei zu.

Die YSP ist eine kurdische Partei.

Ja, aber die YSP gewinnt auch ausserhalb der kurdischen Community viele Stimmen, vor allem im städtischen Milieu. Die Kurdinnen und Kurden haben aus leidvoller Erfahrung erkannt, dass Identitätspolitik und die nationalistischen Geschichtsmythen ein Irrweg sind. Die YSP setzt sich deshalb für demokratische Freiheiten aller, auch jenseits ihrer Stammklientel ein.

 

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