Den Gefangenen Zeit schenken
Pfarrerin Dinah Hess meldet sich am Empfang des Gefängnisses Bässlergut, wo sie vom Beamten kollegial begrüsst wird. Jeden Freitag ist sie hier, dienstags und donnerstags ist sie im Untersuchungsgefängnis Waaghof. Sie passiert die Sicherheitstür und leert dann ihr Postfach. Dort warten Briefe von Insassen sowie eine Liste aller Inhaftierten. Heute sind es 108 Personen. Auf der Liste stehen die Namen der Insassen und der Grund ihrer Inhaftierung. Diese Informationen schaut sich Dinah Hess bewusst nicht an, da sie den Insassen unvoreingenommen als Menschen begegnen möchte.
Die Briefe sind handschriftlich und in verschiedenen Sprachen verfasst. Einige wünschen sich einen Besuch, andere bedanken sich oder berichten, was sie belastet. Viele Briefe sind nur schwer zu entziffern. Ihre Verfasser verfügen oft nur über eine eingeschränkte Schreibkompetenz. Trotzdem wird deutlich: Die Gefängnisseelsorgerin ist eine ihrer wenigen Vertrauenspersonen. Dinah Hess ist ein Mensch, der ihnen Zuversicht schenkt, im monotonen Gefängnisalltag beisteht und für Abwechslung sorgt. Die Unterstützung von aussen ist nicht immer gegeben. Die Gefangenen sind oft sich selbst überlassen und hadern mit ihrem Schicksal.
Briefpapier und Postkarten
Dinah Hess schenkt ihnen ihre Zeit, manchmal auch Briefpapier und Postkarten. Sie möchte nicht, dass ihre Besuche aufgrund von Geschenken erbeten werden. Sie setzt sich in den Besucherraum, einen grossen, zweckmässig gestalteten Raum mit Tischen und Stühlen. Es gibt sogar einen Familienbereich mit einer Spielecke für Kinder. Dort dürfen die Insassen während der Besuchszeiten jeweils drei Stunden pro Woche Besuch von bis zu zwei Personen empfangen.
Dinah Hess setzt sich an einen Tisch und notiert die Namen der Insassen, mit denen sie heute sprechen möchte. Auf der Liste stehen etwa ein Dutzend Namen. Im Verlauf des Tages schafft sie es jedoch selten, mit allen zu sprechen. Oft kommt es zu Verzögerungen, da jeder Insasse
von einem Justizvollzugsangestellten begleitet werden muss – sowohl in den Besucherraum als auch zurück in die Zelle oder an den Arbeitsplatz. Manchmal werden Insassen auch entlassen, ausgeschafft oder in andere Anstalten oder Kliniken verlegt – innerhalb einer Woche kann sich viel ändern.
Nicht urteilen
Heute will sie sich zuerst mit zwei Insassen treffen, die sie schon länger begleitet. Bevor sie den ersten Gefangenen empfängt, zieht sie ihr «Pfarrhemd» an und entzündet eine Kerze. Dinah Hess nimmt so am Tisch Platz, dass sie im Notfall rasch flüchten könnte. Sie betont jedoch, dass sie keine Angst habe und noch nie etwas Bedrohliches vorgefallen sei.
Dann betritt der erste Gefangene den Raum. Als Erstes fragt er, ob Dinah Hess seinen Brief erhalten habe. Ihm liegt viel daran, vom Gefängnisalltag zu erzählen. Er berichtet, dass er bei medizinischen Untersuchungen stets Fussfesseln tragen musste. Das empfand er als entwürdigend. Dinah Hess hört ihm aufmerksam zu. Sie nimmt entgegen, was der Mann sagt, und urteilt nicht. Ändern kann sie nichts, weder am Gefängnisalltag noch an den Vorschriften. Ihre Aufgabe ist es, zuzuhören, seelsorgerisch zu begleiten und den Menschen dabei zu helfen, ihre Situation auszuhalten.
Zeit haben
Ein anderer Insasse ist sehr nervös. Ein Gerichtstermin steht bevor. Er überlegt, was er aussagen soll. Auch ihm hört Dinah Hess zu. Sie rät ihm, sich kurz zu fassen, drei zentrale Punkte zu nennen und alles einfach zu formulieren. Er sorgt sich, dass er nach dem Urteil in eine ausserkantonale Anstalt verlegt wird und seine kranke Mutter ihn dann nicht mehr besuchen kann. Auch dafür hat Dinah Hess Verständnis.
Das ist das Wichtigste, das sie den Gefangenen bieten kann: Zeit und vorurteilslose Zuwendung. Oft bitten die Gefangenen sie, für sie zu beten, selbst wenn sie selbst nicht religiös sind. Für die Gefangenen ist es ein stilles Ritual der Hoffnung und ein Zeichen, dass sie nicht allein sind.
Den Gefangenen Zeit schenken