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«Die russische Armee ist eine Armee der Armen»

von Nadja Ehrbar, Cornelia Krause, reformiert.info
min
15.07.2022
Politikwissenschaftler Jens Siegert über das russische Militär, Propaganda während des Krieges und den schrumpfenden Spielraum für Menschenrechtsorganisationen.

Jens Siegert, Russlands Armee hat einen schlechten Ruf, wiederholt gab es Berichte von Schikanen und Misshandlungen. Wie kommt das?
Wie in vielen Armeen gibt es eine tief verwurzelte Gewaltkultur. Das hat unter anderem mit dem Konzept von Befehl und Gehorsam zu tun. In der russischen Armee kommt das «Grossvatertum» hinzu. Als es noch eine dreijährige Wehrpflicht gab, forderten die Männer im dritten Jahr systematisch Dienste von den Jüngeren ein, quälten sie. Es kam zu Unfällen, Suiziden, Männer griffen ihre Kameraden an. Seit der Wehrdienst nur noch ein Jahr dauert, hat sich das etwas gebessert. 

Der Ukraine-Krieg fordert auch Todesopfer auf russischer Seite. Ist das öffentlich Thema?
Auf nationaler Ebene gab das Verteidigungsministerium nur zwei Mal Opferzahlen heraus. Wenn überhaupt, wird auf regionaler Ebene informiert - dort, wo Leichen zurückkommen. Betroffen sind weniger grosse Städte wie Moskau oder St. Petersburg, sondern wirtschaftlich schwächere Regionen. 

Wie kommt das?
Die russische Armee ist eine Armee der Armen. Wer halbwegs ein Einkommen hat, schaut, dass er um den Wehrdienst herumkommt. Aber auch in ärmeren Regionen wird nicht viel über die Toten gesprochen. Die Medien berichten meist nur, wenn ein hochrangiger General umkam oder Putin Soldaten auszeichnet.

NGOs beklagen Zwangsrekrutierungen, Versetzungen von Wehrdienstpflichtigen an die Front, obwohl das gesetzlich verboten wäre.
Es gibt solche Berichte im Internet. Die Versetzung von Rekruten an die Front wurde zugegeben und von Putin angeblich gestoppt. Aber man hört hierzu nicht viel. Der Krieg ist vor allem Propaganda-Thema, ansonsten wird er kollektiv verdrängt. Zumal ihn Krieg zu nennen und zu kritisieren mit dem sogenannten Fake-News-Gesetz seit Anfang März unter Strafe steht. Sie müssen sich das so vorstellen: Eine Gesellschaft, in der öffentlich darüber diskutiert und verhandelt wird, wie man gemeinsam leben will, gibt es in Russland einfach nicht. Es gibt nur Einzelpersonen oder vielleicht kleine Gruppen, eine Gemeinschaft aber keine Gesellschaft. Darauf hat das Regime systematisch hingearbeitet, in Tradition der Sowjetunion. Die russische Zivilgesellschaft war in den 90er und 2000er Jahren am Entstehen. Nun gibt es grosse Rückschritte.

Dürfen Soldaten gegen ihren Willen überhaupt in den Krieg geschickt werden?
Im Prinzip nicht. Aber zu Anfang des Jahres gab es Berichte nach denen Soldaten angeblich zu Übungen an die Grenze zur Ukraine und nach Weissrussland verlegt wurden und sich dann in der Ukraine wiederfanden. Es herrscht auch ein ungeheurer Druck. Soldaten können nicht einfach auf Informationen zugreifen, sie sind isoliert von der Familie, haben nur ihre Kameraden und Vorgesetzen. Die Kraft aufzubringen, dann nicht in den Krieg zu ziehen, ist schwierig. Zumal es sich ja nicht um Pazifisten handelt, sondern um Menschen, die das System Armee zumindest akzeptabel finden. Auch wirtschaftliche Gründe spielen eine Rolle. Oft finanzieren die jungen Männer durch den Militärdienst ein Haus oder eine Wohnung im Heimatort, die abbezahlt werden muss.

Wie geht das Regime vor, um zusätzlich Soldaten für den Krieg anzuwerben?
Zunächst wurde die Altersgrenze für Soldaten hochgesetzt von 40 auf 65 Jahre. Es geht darum, Männer mit Armeeerfahrung zu bekommen. Und dann werden diese sehr gut bezahlt. Sie erhalten, so wird berichtet, bis zu 350 000 Rubel im Monat, so viel verdient man sonst vielleicht als Jurist oder in einer Bank, in jedem Fall nur mit Studium und in Moskau oder St. Petersburg, nicht in den Regionen.

Dass ein Land NGOs braucht, um die Rechte von Soldaten zu bewahren, ist eher aussergewöhnlich. Wie beurteilen Sie die Rolle von Soldatenmütter-Organisationen?
Diese Organisationen kamen im ersten Tschetschenienkrieg auf. Damals unternahm der Staat kaum etwas gegen das Entstehen solcher Gruppen. Auch heute noch werden diese Organisationen stets genannt, wenn man die Menschen in Russland nach NGOs fragt. Aber sie leben im Wesentlichen von ihrem Mythos. 

Wie meinen Sie das?
Viele der Netzwerke und Organisationen gibt es nicht mehr. Nur in wenigen Regionen, darunter in Moskau und St. Petersburg, sind sie noch aktiv. Und derzeit stehen genau solche Gruppen unter noch starkem Druck, wie alle Menschenrechtsorganisationen. Der Staat geht sehr gezielt gegen sie vor, es erfordert mehr als nur Mut, sich in dem Bereich zu engagieren. Eine Reihe von Aktivisten hat das Land verlassen. Zwar hört man von Netzwerken, die Soldaten beim Versuch helfen, aus der Armee rauszukommen. Aber das ist noch problematischer, da geht es dann um Fahnenflucht, das hängt man nicht an die grosse Glocke.

Wie sieht die Lage für NGOs allgemein aus?
Das hängt davon ab, in welchem Bereich sie tätig sind. NGOs, die sich für Obdachlose oder Behinderte einsetzen, können natürlich weiterhin operieren. Menschenrechtsorganisationen sind stark eingeschränkt, insbesondere durch das sogenannte «Agentengesetz». Opfern von Menschenrechtsverletzungen zu helfen, ist noch nicht völlig unmöglich, wird aber immer schwieriger. 

Wie können diese Organisationen noch operieren?
Ein Beispiel: Die Organisation OWD-Info dokumentiert staatliche Übergriffe auf Menschen, die ihre verfassungsmässigen Rechte wahrnahmen, sprich ihre Meinung äusserten oder demonstrierten. Diese Menschen werden unterstützt durch Anwälte. Nun ist die Organisation aber als ausländische Agentin gebrandmarkt. Ihre Webseite ist in Russland nur noch über eine VPN-Verbindung zu erreichen. Das ist eine zusätzliche Hürde. Andere Organisationen haben ihre öffentliche Arbeit eingeschränkt, arbeiten vor allem auf lokaler Ebene. Anfangs waren viele Organisationen geschockt angesichts der Einschränkungen. Jetzt versuchen viele auszutesten, was noch geht, aber es ist klar, dass das weniger sein wird als vor dem Krieg. 

Wie riskant ist es für Sie, so offen zu sprechen?
Ich habe das seit jeher so gemacht. Zu Kriegsbeginn sind meine Frau und ich sechs Wochen ausgereist. Dann habe ich mit vielen Menschen gesprochen, auch von der Deutschen Botschaft und der EU-Vertretung. Dabei habe ich festgestellt, dass die Verfahren bei Verstössen gegen das Fakenews-Gesetz allesamt russische Staatsbürger betreffen. Ich bin zum Schluss gekommen, dass mir im schlimmsten Fall der Rausschmiss droht. 

Zu Kriegsbeginn gab es Proteste in russischen Städten. Zuletzt wurde es still. Gibt es noch Menschen, die protestieren?
Zwischen Kriegsbeginn und Fakenews-Gesetz lagen etwa zwei Wochen. In der Zeit gab es öffentliche Briefe, unterzeichnet von hunderten Wissenschaftlern und Journalisten. Und es gab Proteste. In den ersten zwei Wochen wurden, dokumentiert von OWD-Info, rund 12 000 Menschen festgenommen. Seitdem ist die Zahl auf gut 16 000 gestiegen. Das ist kein grosser Zuwachs, denn grosse öffentliche Proteste finden nicht mehr statt. Die Menschen, die jetzt noch festgenommen werden, stehen meist einsam mit einem Plakat in der Gegend. Auf dem steht dann beispielsweise das 5. Gebot, manchmal auch gar nichts. Sie werden wegen Verstosses gegen das Versammlungsgesetz festgenommen.  

Steht die Mehrheit des Volkes klar hinter Putin?
Das sagen zumindest Umfragen, darunter die des russischen Lewada-Zentrums. Nun kann man die Glaubwürdigkeit von Umfragen in Russland, einem Land ohne Pressefreiheit und mit sehr eingeschränkter Meinungsfreiheit, natürlich in Frage stellen. Aber selbst, wenn man den absoluten Zahlen misstraut, kann man doch aus den Änderungen bei wiederholt gestellten Fragen gewisse Tendenzen ablesen. Demnach steht eine Mehrheit hinter Putin, wenngleich nicht sehr aktiv. Die Motivation ist unterschiedlich. Manche sagen etwa «mein Land ist im Krieg und in dem Fall darf man sich nicht gegen das eigene Land stellen.» Dann gibt es Menschen, die Putins Argumentation glauben, wonach der Krieg die letzte Möglichkeit war, einen Angriff des Westens auf Russland zu verhindern. Ich habe aber nie Menschen gesprochen, die fanden, Russland müsse die Ukraine vernichten. So etwas hört man nur als Propaganda im Fernsehen. 

Wagen Sie eine Prognose, wie lange der Krieg noch dauern kann?
Selten bin ich mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz einer Meinung, aber in dieser Frage schon. Das lässt sich nicht beurteilen. Unter anderem, weil es einen Menschen gibt, der das ziemlich frei bestimmen kann. Und das ist Putin. Er kann den Krieg beenden, hat aber auch die Macht, ihn sehr lange weiterzuführen.  

Nadja Ehrbar, Cornelia Krause, reformiert.info

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