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Seniorinnen auf dem Weg zu wegweisender Gerichtsverhandlung

von Marius Schären, reformiert.info
min
10.02.2023
Die Klimaerwärmung kann die Gesundheit von Menschen bedrohen. Eine Gruppe Schweizerinnen hofft nun, dass der Schutz davor als menschenrechtlich relevant anerkannt wird.

Es wird eine grosse Kiste. Wenn ab dem 29. März am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg die Klage der Klimaseniorinnen aus der Schweiz verhandelt wird, dürfte das wegweisende Wirkung haben auf viele ähnliche Fälle in der Zukunft – zumindest, wenn die Klägerinnen Erfolg haben. Die Klage wurde vom Gerichtshof als dringlich eingestuft und wird öffentlich vor der Grossen Kammer – das heisst vor allen Richterinnen und Richtern – verhandelt.

Staat soll Schutzpflichten wahrnehmen
In erster Linie fordern die Klägerinnen eine unabhängige gerichtliche Überprüfung der Klimapolitik. Ihr Ziel sei es, «dass der Staat seine Schutzpflichten uns gegenüber wieder wahrnimmt und ein Klimaziel verfolgt, das der Anforderung genügt, eine gefährliche Störung des Klimasystems zu verhindern», sagt die Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen, Rosmarie Wydler-Wälti.

Konkret fordern die Klimaseniorinnen umfassendere, auf dieses Ziel angepasste Massnahmen und eine bessere Umsetzung der beschlossenen Massnahmen. Denn aus ihrer Sicht erfüllt der Bund seine Schutzpflichten gegenüber den Grundrechtsträgerinnen ungenügend.

Bereits im Sommer 2003 mit der grossen Hitze wurde ein Grundstein gelegt für das Engagement der Klimaseniorinnen. Es gab sie zwar noch lange nicht, aber unter anderem damals sei bewiesen worden, dass insbesondere ältere Frauen am stärksten gesundheitlich negativ betroffen seien von der Hitze, sagt Rosmarie Wydler-Wälti.

Ursprung bei Greepeace

Die Gründung des Vereins ging aber auf eine Idee von Greenpeace zurück. Die Organisation unterstützt die Klimaseniorinnen auch weiterhin. Im Dezember 2015 gewann in den Niederlanden eine Nichtregierungsorganisation einen Gerichtsfall, in dem es um das Klima ging. Die Umweltorganisation tat sich darum, wie das auch in der Schweiz möglich sein könnte.

Weil das gemäss Umweltanwältinnen eine Personengruppe sein sollte, die am stärksten betroffen sind, suchte Greenpeace schliesslich ältere Frauen, die sich engagieren wollten. So wurde der Verein Klimaseniorinnen gegründet.

«Als Verein haben wir dann mit vier Einzelklägerinnen zusammen im November 2016 beim Bund ein Begehren eingereicht», sagt die Co-Präsidentin Wydler-Wälti. Doch dann folgte ein längerer Weg durch die Instanzen.

UVEK, Bundesverwaltungsgericht, Bundesgericht
Das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) teilte im April 2017 mit, aus formalen Gründen nicht auf das Begehren einzutreten. Im Dezember 2018 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ab. Grund: Die nötige «besondere Betroffenheit» fehle. Alle Menschen seien von der Klimaerwärmung betroffen.

Und anderthalb Jahre später folgte die Abweisung auch vom Bundesgericht. Im Mai 2020 begründete die höchste Schweizer Instanz, die Klimaseniorinnen seien nicht in hinreichender Intensität berührt, es bestehe noch genug Zeit für Massnahmen und überhaupt könne sich die Bevölkerung oder Teile davon nicht auf ihr Recht auf Leben und Gesundheit berufen.

In Strassburg als prioritär eingestuft
Doch nachdem die Seniorinnen im November 2020 mit dem Schiff nach Strassburg gefahren waren, drehte sich der Wind. Im März 2021 stufte der EGMR die Klage als prioritär ein. Das lässt die Stimme von Rosmarie Wydler-Wälti beim Erzählen erhellen: «Schon dass die Klage angenommen wurde, war ein Erfolg. Diese Einstufung aber war dann ein zusätzlich aussergewöhnlich motivierender Entscheid.» Hinzu kam dann noch, dass der Fall vor der Grossen Kammer verhandelt werden soll – das bedeute, dass alle Richterinnen und Richter des Gerichtshofs dabeisein wollen.

Der Erfolg der Klimaseniorinnen zeigt sich auch an der Mitgliederzahl: Heute seien es über 2000, sagt die Co-Präsidentin. Nun reist Ende März eine Delegation mit einem Rechtsteam von fünf Juristinnen und Juristinnen nach Strassburg. Aus der Schweiz sind das Cordelia Bähr, Martin Looser und Raphaël Mahaim, die unterstützt werden von Jessica Simor und Marc Willers aus England.

Fachlich begleitet von Universitäten
Fachlich beobachtet und kontrolliert ist der Gang der Schweizerinnen nach Strassburg auch durch Forschende der Universitäten Bern und Zürich. «Sie helfen uns einzuordnen, inwiefern tatsächlich vertretbar ist, was wir sagen wollen», beschreibt Rosmarie Wydler-Wälti.

Und trotz der Grösse und dem Gewicht, das die Aktion unterdessen erhalten hat, sagt die Co-Präsidentin mit Nachdruck: «Für mich ist dieses Engagement ganz klar eine Herzensangelegenheit. Ich habe Stunden verbraten und tue es immer noch – das hoffentlich ohne Emissionen.» Dabei lacht sie.

Auch rechtlich hoffnungsvoll
Und fügt an, dass alte Frauen sonst im gesellschaftlichen Leben kaum sichtbar seien. «Aber hier können wir etwas Sinnvolles für die Welt machen», ist Wydler-Wälti überzeugt. Dass sie angenommen und zudem prioritär in der Grossen Kammer verhandeln können, bedeute, dass die Klimaseniorinnen ernst genommen würden. «Und da wir aufgrund der Schweizer Verfassung und der Menschrechtskonvention geklagt haben, sind wir tatsächlich auch rechtlich hoffnungsvoll.»

Das Wunschziel der Klimaseniorinnen wäre, dass der Schutz vor Klimaeinflüssen auf die Gesundheit der Menschen als Menschenrecht angeschaut wird. «Dieses Ziel ist aus unserer Sicht am dringendsten», sagt die Co-Präsidentin. Denn damit würde auch der Bundesrat unter Druck gesetzt, effektive Massnahmen anzustreben. Er müsste dann im Ministerrat des EGMR jährlich Bericht erstatten.

Es gäbe Prestigedruck für die Schweiz
Zwar müssten die Massnahmen dann immer noch im Parlament umgesetzt werden – was nicht nur Hoffnung mache. «Aber immerhin würde die Schweiz unter einem grossen Prestigedruck stehen. Die ganze Welt würde auf uns schauen.»

Was ihr Verein tun werde, wenn die Klage abgewiesen werden sollte, sei noch nicht klar, sagt Wydler-Wälti. «Aber unsere Anwältinnen und Anwälte sind zuversichtlich, dass wir mit diesem Fall Geschichte schreiben können und es eine Wirkung haben wird.»

Die Anhörung wird voraussichtlich ein paar Monate dauern. Und sie ist öffentlich: Wer will, kann daran teilnehmen.

 

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