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Gesellschaft

Faszination Verschwörungstheorien

von Carmen Schirm
min
02.04.2024
Menschen haben das Bestreben, einfache Erklärungen für Dinge zu finden, die sie als Bedrohung oder Gefahr wahrnehmen. Die Historikerin Stefanie Mahrer erklärt, warum Verschwörungstheorien so attraktiv sind.

Es war Anfang März. Ein 15-jähriger Schweizer, mit tunesischen Wurzeln, verletzte einen orthodoxen Juden mit einem Messerangriff schwer. Ein Verbrechen aus Judenhass. Das gab es bislang in der Schweiz noch nicht.

Die Juden werden schon seit vielen Jahrhunderten verleugnet und irrwitziger Verbrechen bezichtigt. Bereits im Mittelalter gab es verheerende Verschwörungserzählungen, wie etwa die «Brunnenvergiftung» durch die Juden. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Vorstellung der «Jüdischen Weltherrschaft» zum legitimen Wissen in der Gesellschaft. Dieses Verschwörungsnarrativ führte in die Katastrophe des Holocaust.

Wir erleben in weiten Teilen Europas und in den USA ein Erstarken des Rechtspopulismus.

«Heute befeuern die neuen Medien wieder den Antisemitismus», sagt Stefanie Mahrer, Assistenzprofessorin für Schweizerische und Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Bern. Sie hält Mitte April einen Vortrag in Schaffhausen. In diesem gibt sie einen Überblick über Geschichte und Funktion moderner Verschwörungstheorien und geht anhand konkreter Beispiele aus jüngster Zeit der Entstehung und Verbreitung dieser oft nicht unproblematischen Welterklärungen nach.

Eine komplexe Welt vermeintlich verstehen

Verschwörungstheorien sind Welterklärungsmodelle. Sie helfen, eine enorm komplex gewordene Welt vermeintlich zu verstehen. Und unsere heutige Welt ist sehr komplex: die vergangene Pandemie, der russische Angriffskrieg in der Ukraine, Flüchtlingskrise, steigende Energie- und Lebensmittelpreise und weltweite Inflation. Es kommt viel zusammen. Und es ist schwierig, dies alles zu verstehen und damit umzugehen.

Im Mittelalter und in der Vormoderne war die Weltordnung klar. Es gab Gott und seinen Gegenspieler.

«Wir erleben in weiten Teilen Europas und in den USA ein Erstarken des Rechtspopulismus», sagt Stefanie Mahrer. Verschwörungstheorien werden bewusst als Instrument eingesetzt, um das Vertrauen in den Staat zu untergraben. «Das Narrativ etwa der ‹gestohlenen Wahl› spaltet die Bevölkerung in den USA und stellt demokratische Prozesse in Frage.»

Historisch gesehen entstand die heutige Form von Verschwörungstheorien in der Zeit der Französischen Revolution und der Aufklärung. «Im Mittelalter und in der Vormoderne war die Weltordnung klar. Es gab Gott und seinen Gegenspieler, den Teufel, der mit seinen Handlangern in der Welt wirkte. Auch damals wurden Schuldige gesucht und entsprechend diffamiert: Hexen und Juden. Aber die Argumentation war eingebettet in ein religiöses Sinnsystem von Gut und Böse.

Geistes- und Sozialwissenschafter sind eher weniger verschwörungstheoretisch eingestellt als die Natur- und Ingenieurwissenschafter.

Mit der Aufklärung verloren das Christentum und die Kirchen ihre Deutungsmacht. Politisch wurde mit der Französischen Revolution die Ständegesellschaft abgeschafft. Neue politische und soziale Ordnungen wurden erprobt, die Volksschule wurde eingeführt, die Alphabetisierungsrate stieg. Mehr Menschen konnten Texte verfassen und über das aufblühende Zeitschriften- und Nachrichtenwesen rasch verbreiten – plötzlich war nichts mehr so, wie es gewesen war. Das löste eine grosse Verunsicherung aus, und man suchte nach Schuldigen.

30 bis 40 Prozent glauben daran

Etwa 30 bis 40 Prozent der Menschen glauben an Verschwörungen, schätzt Stefanie Mahrer. Das ist bald die Hälfte der Gesellschaft, mehr als je zuvor. Es sind etwas mehr Männer als Frauen. «Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Gruppe der weissen Männer in den letzten 40 Jahren gesellschaftlich am meisten in Frage gestellt wurde.» Weisse Männer haben, vor allem in den USA, ihre Vorrangstellung verloren. Sie fühlen sich vernachlässigt und nicht mehr wert als Frauen oder Schwarze. Dieser Verlust von Privilegien erhöht die Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien. Und sie suchen einen Sündenbock für ihren Niedergang.

Interessanterweise hängt die Anfälligkeit für Verschwörungsnarrative nicht von der Bildung ab. «Geistes- und Sozialwissenschafter, die sich per se mit der Komplexität der Welt befassen, sind eher weniger verschwörungstheoretisch eingestellt als die Natur- und Ingenieurwissenschafter.» Deren Denken basiert stärker auf dem Ursache-Wirkungs-Schema. «Aber unsere komplexe Welt darf bis zu einem gewissen Grad unerklärlich bleiben.»

 

Vortrag

Verschwörungstheorien in Geschichte und Gegenwart, 18. April, 19–22 Uhr, Zentrum St. Konrad, Stauffacherstrasse 3, Schaffhausen

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