Baselland, Basel-Stadt, Luzern, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Uri, Zug
Flüchtlingstag

«Ich sehe Menschen, nicht Flüchtlinge»

von Carole Bolliger
min
30.05.2025
Annette Plath ist Sozialdiakonin in Cham. Sie begleitet Geflüchtete auf ihrem Weg in ein neues Leben – mit offenen Ohren, Kreativität und einem langen Atem.

Wer Annette Plath begegnet, spürt: Diese Frau hört zu. Mit echtem Interesse, mit Wärme, ohne Eile. Seit 2015 engagiert sich die Sozialdiakonin der Reformierten Kirche Cham für geflüchtete Menschen – in einer Arbeit, die so vielseitig ist wie die Menschen, denen sie begegnet: Da ist die syrische Mutter, die wissen will, wie das mit der Schule in der Schweiz funktioniert. Der Jugendliche aus Afghanistan, der seine Geschichte im Theaterprojekt verarbeitet. Die Frau aus Eritrea, die sich mit einer Velopumpe zum ersten Mal in einer Werkstatt behauptet. Und alle anderen, die gekommen sind, um in Sicherheit zu leben – und die nun versuchen, in einer fremden Welt heimisch zu werden.

Annette Plath begleitet sie auf diesem Weg. Sie organisiert, moderiert, vermittelt, hört zu – und packt an, wenn Not am Mann ist. Sie baut Brücken, wo Gräben sind, und schafft Räume, wo Vertrauen wachsen kann. Dabei geht es ihr nicht um schnelle Integration im Sinne von Anpassung, sondern um echte Begegnung.

Mir ist wichtig, dass Menschen nicht auf ihre Fluchterfahrung reduziert werden», sagt sie. «Ich sehe nicht primär Geflüchtete, ich sehe Menschen – mit ihren Stärken, ihren Träumen, ihrer eigenen Würde.

Ein Netz von Beziehungen

Die Anfänge ihres Engagements reichen zurück ins Jahr 2015, als viele Menschen auf der Flucht vor Krieg und Terror nach Europa kamen. Auch in Cham entstand eine breite Welle der Solidarität. «Damals haben sich viele Freiwillige gemeldet – und wir konnten gemeinsam viel auf die Beine stellen», erinnert sich Plath. Daraus sind verschiedene Projekte entstanden: Deutschtandems, Sportgruppen, interkulturelle Kochabende, Musikgruppen, eine Velowerkstatt, Theaterprojekte.

Inzwischen ist vieles davon gewachsen. Die reformierte Kirche finanziert 25 Stellenprozent für ihre kantonale Flüchtlingsarbeit – eine Struktur, die Annette Plath erlaubt, Projekte aufzubauen, Freiwillige zu koordinieren und verlässlich für die Menschen da zu sein. Doch auch darüber hinaus investiert die Sozialdiakonin Zeit, Ideen und Herzblut. «Ich sehe meine Aufgabe nicht nur im Organisieren, sondern auch im Dranbleiben. Viele Geflüchtete haben kein stabiles Netz – und genau das versuche ich mit meiner Arbeit zu bieten: ein Netz von Beziehungen, das trägt.»

Nähe, die auch herausfordert

Plaths Arbeit spielt sich oft im Kleinen ab – im Gespräch, beim Kaffee, im gemeinsamen Tun. Doch sie ist alles andere als belanglos. «Ich erlebe so viele starke, beeindruckende Menschen. Aber ich höre auch Geschichten, die mich erschüttern», sagt sie. Menschen, die in ihrer Heimat Folter erlebt haben. Frauen, die auf der Flucht sexualisierte Gewalt erlitten. Jugendliche, die ihre Eltern verloren haben. «Solche Erfahrungen lassen einen nicht kalt.» Wie hält sie das aus?

Ich glaube, indem ich nicht alleine damit bin. Ich habe ein gutes berufliches Umfeld, mit dem ich mich austauschen kann. Und ich habe gelernt, dass ich nicht alles tragen muss – dass ich auch abgeben darf. Aber ich will nicht abstumpfen. Die Nähe zu diesen Menschen berührt mich immer noch – und das ist gut so.

Gleichzeitig erlebt sie in ihrer Arbeit viel Frustration. Besonders schwer sei es, wenn sich trotz aller Bemühungen kaum etwas bewege: «Wenn jemand seit Jahren auf die definitive Aufenthaltsbewilligung wartet. Oder wenn eine Person abgeschoben wird, obwohl sie hier längst zu Hause ist. Das zerreisst einem das Herz.» Dennoch bleibt sie dran – auch weil sie sieht, wie wichtig es ist, dass jemand den Menschen den Rücken stärkt:

Ich kann nicht alle Probleme lösen. Aber ich kann da sein.

Was bedeutet ihr die reformierte Kirche in diesem Kontext? «Für mich ist Kirche ein Raum, in dem wir uns für Gerechtigkeit einsetzen – ganz konkret, mitten im Leben», sagt sie. Es gehe nicht um Moral, sondern um Haltung: «Ich verstehe Diakonie als gelebte Nächstenliebe. Und als Einladung an alle, sich zu beteiligen.» Dass sich viele Freiwillige aus dem kirchlichen Umfeld engagieren, erlebt sie als grosse Stärke. Es gebe so viele Menschen mit Herz, Verstand und Tatkraft. Ohne sie ginge vieles nicht. Gleichzeitig betont sie, dass diakonisches Engagement kein exklusives Terrain der Kirche sei: «Ich arbeite bewusst ökumenisch, überkonfessionell und mit säkularen Partnern. Was uns verbindet, ist die Haltung: Jeder Mensch ist wertvoll.»

Besonders am Herzen liegt ihr das interkulturelle Theaterprojekt, das sie mitgegründet hat. Hier stehen Geflüchtete und Einheimische gemeinsam auf der Bühne – erzählen, tanzen, spielen, lachen, weinen. «Theater gibt Menschen eine Stimme», sagt Plath. Es sei ein Raum, in dem Geschichten lebendig würden – und in dem Heilung möglich sei. Für viele sei das Projekt ein Schlüsselerlebnis:

Da steht eine junge Frau aus Afghanistan auf der Bühne und erzählt von ihrer Flucht – und im Publikum hören Menschen zu, die vielleicht vorher noch nie mit einer Geflüchteten gesprochen haben. Das verändert etwas. Auf beiden Seiten.

Annette Plath ist überzeugt: Es braucht solche Räume der Begegnung mehr denn je. Gerade in einer Zeit, in der der Ton rauer wird, Ängste wachsen und Polarisierung zunimmt. «Ich glaube, dass wir als Gesellschaft entscheiden müssen, in welche Richtung wir gehen wollen», sagt sie. «Ob wir uns abschotten oder öffnen. Ob wir Angst machen oder Hoffnung geben.» Sie selbst hat sich entschieden. Für die Hoffnung. Für das Miteinander. Für die Menschen, die alles hinter sich lassen mussten – und doch jeden Tag den Mut aufbringen, neu anzufangen.

 

Flüchtlingstag

Am Sonntag, 15. Juni, wird der Zuger Flüchtlingstag gefeiert. Ein Fest für Geflüchtete, Zugewanderte und Einheimische. Es gibt Musik und Spiel, afghanisches Festessen, Kaffee und Tänze aus verschiedenen Kulturen. Das Fest findet statt im Kirchenzentrum Zug ab 12 Uhr. Regierungsrat Stephan Schleiss richtet ein Grusswort an die Gäste, und um 15.15 Uhr gibt es Theater mit dem Theater Casino Zug.

Unsere Empfehlungen

Begegnung auf Augenhöhe

Begegnung auf Augenhöhe

15 Jahre Sonntagszimmer in der Matthäuskirche: Seit 2010 öffnet die Matthäuskirche jeden Sonntagmorgen um 8 Uhr die Türe und schliesst sie erst spätabends wieder. Die Kirche öffnet Tür und Herz für Menschen, die Wärme suchen, eine gute Mahlzeit, Gemeinschaft und Rat.