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Spiritual Care

«Männer sind nicht so, weil sie nun mal so sind, sondern weil sie so wurden.»

von Hans Herrmann, Anouk Holthuizen/reformiert.info
min
09.09.2024
Lieber wandern statt reden: Männer und Frauen drücken ihre Trauer zuweilen verschieden aus. Das muss in der Begleitung trauernder Männer berücksichtigt werden, sagt der Theologe und Autor Traugott Roser.

Das Thema interessiert. Trotz schwüler Hitze sind an diesem Abend im Bildungshaus der Reformierten Kirche Aargau in Aarau die Stuhlreihen fast durchgehend besetzt, auch per Zoom sind Gäste zugeschaltet. «Männer trauern anders, oder?» lautet der Titel des Abends. Eingeladen ist die Öffentlichkeit, aber besonders Menschen, die in der Palliative Care tätig sind. Sie haben regelmässig mit Menschen zu tun, die mit schweren Krankheiten, Sterben und Tod konfrontiert sind und begegnen dabei verschiedenen Ausdrucksweisen von Trauer.

Spezialist für die Frage, ob Männer Trauer anders äussern als Frauen ist der Referent Traugott Roser. Der praktische Theologe an der Universität Münster hat unter anderem einen Masterlehrgang in Spiritual Care für verschiedenste Berufsgruppen entwickelt, und er ist Co-Autor des Buchs «Männer trauern als Männer», das er mit dem Pastoraltheologen Norbert Mucksch 2023 veröffentlicht hat. Roser hat selbst viel Erfahrung mit Trauer: Sowohl sein erster als auch sein zweiter Mann sind an Krankheiten gestorben.

Wichtig fĂĽr kirchliche Angebote

Mit einem kurzen Austausch in Gruppen animiert Roser das Publikum, selbst einmal laut nachzudenken, was man mit trauernden Frauen und Männern assoziiert. Die Männer sollen erzählen, wie sie Trauer erleben und ausdrücken, und die Frauen, wie Männer ihrer Meinung nach trauern. Es zeigt sich rasch, dass manche Klischees der Realität entsprechen, diese aber längst nicht immer auf «weiblich» oder «männlich» schliessen lässt. Die Frauen finden: Männer reden nicht, weinen nicht, sie verdrängen ihre Gefühle, trinken mehr Alkohol.

Im Plenum dann berichten Männer von sich. Einer bestätigt, dass er nicht weinen kann. Der zweite berichtet von Ohnmacht und Kontrollverlust, der dritte von inneren emotionalen Stürmen. Einer stürzt sich jeweils in Arbeit, ein anderer sucht sich bewusst Raum für sich allein. Einige Frauen nicken, manches kennen sie gut von sich selbst.

Roser bestätigt, dass die Forschung und die Interviews mit Männern für sein Buch tatsächlich wenige unterschiedliche Formen von Trauer zwischen den Geschlechtern ausmachen. Doch es gibt einige Tendenzen, und die sind von Bedeutung für jene, die sich um einen Mann in einer Krise kümmern. Nicht nur für Angehörige, sondern auch für Kirchgemeinden und Menschen in der Seelsorge.

Trauer versetzt Männer oft in Aktivismus.

Er orientiert sich dabei an Studien von Kenneth Doka, emerierter Professor für Gerontologie an der Graduate School of The College of New Rochelle in New York und Berater für Trauerprogramme in Hospizen. Doka ordnet Frauen und Männern zwei verschiedene Trauerstile zu. Dem intuitiven Muster entsprechen mehr Frauen: Sie erleben Gefühlswellen und sprechen darüber. Oft machen sie ihre Gefühle sichtbar, weinen oder schreien. Im Verarbeiten der Trauer hilft es ihnen, sich mit Freunden, in der Selbsthilfegruppe oder mit Seelsorgenden darüber auszutauschen.

Männer hingegen rationalisieren ihre Gedanken eher, grübeln und sind rastlos, stürzen sich in Arbeit und entwickeln häufiger als Frauen körperliche Symptome, etwa ein krankes Herz. Roser: «Wenn man Männer fragt, was ihnen in der Trauer geholfen hat, sagten sie oft: ‹etwas machen›. Trauer versetzt Männer oft in Aktivismus.» Daher nenne man dieses Muster instrumentell.

Angebote sprechen eher Frauen an

Roser betont mehrmals, dass die unterschiedlichen Verhaltensweisen nicht gottgegeben sind. Sie seien stark durch kulturelle Rahmenbedingungen geprägt, die in die Erziehung hineinspielen – etwa die Haltung, dass ein Mann nicht weint und nicht über seine Gefühle spricht, während das zu Frauen «passt». Er sagt: «Männer sind nicht so, weil sie nun mal so sind, sondern weil sie so wurden.»

Wenn der Gottesdienst gut gelingt, beginnt etwas zu fliessen, Menschen kommen aus ihrer Versteinerung.

Trauercafés, die manche Kirchgemeinden anbieten, eignen sich daher eher für Frauen. Gruppen, wo man sich bei Kaffee austauscht oder im Kreis um eine gestaltete Mitte sitzt, sprechen viele Männer nicht an. Laut Roser könnten Männer mit einer Einladung zum Pilgern oder Wandern besser erreicht werden. Nebeneinander gehen zu reden, ohne sich dabei anzusehen oder dabei auch schweigen, sei eine gute Möglichkeit, trauernde Männer zu unterstützen. «Das Gefühl, dass jemand neben einem geht, man aber nicht unbedingt zusammen reden muss, ist eine wunderbare Erfahrung.» Auch gemeinsamer Sport oder ein Handwerksworkshop böte einen guten Rahmen – alles, wo man etwas gemeinsam macht und sich nicht bloss gegenübersitzen und austauschen muss.

Als der Abend für Fragen aus dem Publikum geöffnet wird, möchte ein Pfarrer wissen, wie sich Männer unter diesen Prämissen besser in Trauergespräche einbinden lassen. Laut Roser eignen sich diese Gespräche, in denen oft auch der Abschiedsgottesdienst angesprochen und vorbereitet wird, so oder so gut für Männer. «Man erzählt dabei viel über die verstorbene Person, auch Fakten, und das hat für eine ganz wichtige Funktion.»

Auch der Gottesdienst, der hohe emotionale Anteile habe, sei ein ideales Gefäss. «Wenn dieser gut gelingt, beginnt etwas zu fliessen, Menschen kommen aus ihrer Versteinerung.» Zum Beispiel durch Musik. Darum sei es wichtig, dass man gemeinsam darüber nachdenke, was man während der Feier singen oder welches Musikstück man hören wolle. «Bei Musik im Gottesdienst fliessen häufig Tränen, ohne dass man reden muss.» Und: «Gut ist auch, dass jeder Gottesdienst ein Ende. Hat. So zerfliesst man nicht in der Trauer.»

 

Norbert Mucksch, Traugott Roser: Männer trauern als Männer. Praxisbuch für eine genderbewusste Trauerbegleitung. Vandenhoeck & Ruprecht 2023, 168 Seiten.

 

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