«Manche Leute rufen seit mehr als 30 Jahren täglich an»
«Die Entscheidung kam letztlich aus dem Bauch heraus», sagt Daniela Krouthén und erzählt, wie ihr Engagement als Vertreterin der Schaffhauser Kantonalkirche im Vorstand der Regionalstelle Winterthur-Schaffhausen-Frauenfeld zustande kam.
Nach vielen Jahren im Gemeinderat, im Kirchenstand Buchberg-Rüdlingen und in der Synode hatte sie sich vorgenommen, nach der Pensionierung keine regelmässigen Verpflichtungen mehr einzugehen. «Trotzdem hat mich die Anfrage des Kirchenrats angesprochen.» Der Aufwand sei mit vier Sitzungen pro Jahr überschaubar. «Doch was mich wirklich überzeugt hat, ist der tiefere Sinn dieser Aufgabe. Auch wenn ich selbst keine Gespräche am Telefon führe, finde ich es wertvoll, eine Institution wie die Dargebotene Hand im Hintergrund zu unterstützen, weil sie genau das lebt, was für mich wichtig ist: Nächstenliebe, Respekt vor der Menschenwürde, echtes Zuhören.»
Rufen Sie mich an!
Am Anfang stand der Gedanke der Suizidprävention. Chad Varah, Pfarrer einer anglikanischen Gemeinde in London, liess 1954 ein Inserat erscheinen, in dem stand: «Bevor Sie sich das Leben nehmen, rufen Sie mich an!» Das Inserat war der Start zur heute fast weltweit verbreiteten Telefonseelsorge. Vier Jahre später wurde in Zürich das erste Sorgentelefon der Schweiz eröffnet.
Die heutige Dargebotene Hand ist ein Zusammenschluss von zwölf regional verankerten eigenständigen Organisationen unter einem gesamtschweizerischen Dachverband. Sie ist offen für alle Menschen, unabhängig von Religion, Kultur und Herkunft.
Die Nachfrage ist gross: Die freiwillig Mitarbeitenden führten im Jahr 2024 schweizweit über 184'000 Telefongespräche. Dazu kamen rund 1100 Mail-Kontakte und 8200 Chats. Von Jahr zu Jahr nehmen immer mehr Menschen das Angebot wahr.
Landeskirchen tragen rund 30 Prozent des Budgets
Die Regionalstelle Winterthur-Schaffhausen-Frauenfeld verzeichnete im vergangenen Jahr 12500 Telefonanrufe, 200 Mailkontakte und 650 Chats. Gut 30 Prozent des Budgets werden von den reformierten und den katholischen Landeskirchen getragen, die im Vorstand durch Delegierte vertreten sind. Die restliche Finanzierung erfolgt durch Beiträge von Stiftungen, Gemeinden und Kantonen sowie durch private Spenden.
Der Hauptteil der Gelder fliesst in die Aus- und Weiterbildung der ehrenamtlich tätigen Mitarbeitenden. Die Ausbildung ist Voraussetzung für den Telefondienst und dauert neun Monate. Jährlich finden zehn Weiterbildungen für die Freiwilligen statt. Das durchschnittliche Engagement der Freiwilligen liegt bei sieben Jahren.
Nicht nur in grossen Krisen
«Manche Leute rufen seit mehr als 30 Jahren täglich an», weiss Daniela Krouthén. Doch welche Themen beschäftigen Hilfesuchende am häufigsten? «Alltagsbewältigung, psychisches Leiden, Beziehungsprobleme und Suizidalität», lautet die Antwort. «Neben persönlichen Schwierigkeiten und Schicksalsschlägen löst auch die aktuelle Weltlage Ängste aus.» Auf 143.ch sind fiktive Gesprächsbeispiele zu verschiedenen Themen aufgeschaltet. Diese Gespräche sind zwar gestellt, entsprechen inhaltlich aber den Erfahrungen aus der Praxis. Sie wirken authentisch und erstaunlich undramatisch. «Es muss nicht immer die ganz grosse Krise sein», betont Daniela Krouthén. «Gespräche tun gut bei jeder Art von Sorgen und Kummer.»
Der zunehmende Leistungsdruck belastet viele Menschen, auch junge leiden vermehrt darunter. «Jüngere Menschen nutzen vor allem Chat und E-Mail, wenn das Sprechen schwerfällt. Das Thema Suizid wird online zum Beispiel viermal öfter angesprochen als am Telefon», erklärt Daniela Krouthén. Für sie spiegeln die Anrufe bei der Dargebotenen Hand ein Stimmungsbild der Gesellschaft wider. «Viele Menschen schauen heute primär auf sich selbst. Das Gefühl von sozialer Verbundenheit geht zunehmend verloren. Gleichzeitig steigen die Anforderungen im Beruf und auch in der Freizeit. Man soll ständig Leistung bringen und dabei möglichst lange jugendlich und fit bleiben. Viele fühlen sich permanent überfordert.»
Schutz der Anonymität
Die Dargebotene Hand (Tel. 143) bietet den Schutz der Anonymität und ist kostenlos. Sie ist 365 Tage im Jahr rund um die Uhr erreichbar. Ein Gespräch kann zwischen 10 und 40 Minuten dauern, in akuten Krisensituationen auch länger. Die Freiwilligen von 143 greifen nicht konkret ein oder lösen weitere Hilfestellungen aus. «Sie hören einfühlsam und wertschätzend zu, ohne zu urteilen. Dadurch kann eine Situation an Schärfe verlieren, und es wird möglich, gemeinsam zu überlegen, was weiter hilfreich sein könnte.»
Daniela Krouthén sieht die Telefonseelsorge nicht als Konkurrenz zur kirchlichen Seelsorge. «Weder die Kirche noch der Staat könnten die steigende Nachfrage alleine abdecken. Die Dargebotene Hand ist eine wichtige Ergänzung, ich sehe sie als gelebte Diakonie mitten in unserer Gesellschaft.»
Telefon 143 – Die Dargebotene Hand: www.143.ch
«Manche Leute rufen seit mehr als 30 Jahren täglich an»