Nach Frieden streben – den Krieg ernst nehmen
Irgendwann Anfang der 1980er-Jahre wurde ich zum Kriegsreporter. Das war zwar nie meine Traumvorstellung vom Korrespondentenjob gewesen. Als aber Kriege in «meinem» Gebiet ausbrachen – ich lebte auch damals teilweise in Griechenland –, wollte ich darüber berichten, und zwar unbedingt.
Sehr schnell musste ich dabei erfahren, wie brandgefährlich diese Arbeit und wie brutal und unkontrollierbar die militärische Gewalt ist: die Schwerverletzten an der Front im Iran-Irak-Krieg, die Kinder, die ihr Augenlicht bei Bombenexplosionen verloren hatten, die Opfer der chemischen Kriegsführung Saddam Husseins, später die Minenopfer im Kosovo.
Kriege vorhersehen
Nun hat der Krieg in der Ukraine all diese grauenvollen Bilder und Eindrücke wieder belebt. Zugleich haben sie in mir eine Grundüberzeugung gefestigt: Kriege müssen vorhergesehen und verhindert werden. Bis zum vergangenen 24. Februar glaubte ich, dass Putin diesen Krieg gar nicht denken könne. Das war ein Irrtum, er dachte ihn offensichtlich sehr wohl und zeigte damit der Welt: Wirtschaftliche
Beziehungen garantieren keinen Frieden. Dass er sich über den Kriegsverlauf geirrt haben mag, bestätigt lediglich die alte Weisheit, wonach in einem Krieg nur der erste Schuss berechnet werden könne.
Die Kernfrage, die sich uns allen stellt – auch mir als Medienschaffendem –, ist: Warum sind wir sehenden Auges in diese Katastrophe geschlittert? Was machte uns taub und blind? War es das billige Gas, war es der lange Frieden in Europa?
Leider wird die Debatte über den Krieg inzwischen weitgehend von Militärexperten dominiert – darunter übrigens nur wenige Frauen –, die den Krieg mit Tabellen über die Truppenstärken, mit Schaubildern modernster Waffensysteme und mit detailliertem Kartenmaterial verklären. Dieser Blick verdrängt die unerträglichen Bilder des Schreckens.
Schaler «Siegfrieden»
Diese auch von einigen Medien mitgetragene militärwissenschaftliche Verklärung eines längst für beide Seiten aussichtslosen Krieges führt dazu, dass wider besseres Wissen die Aussicht auf einen Sieg postuliert wird. Gemeint ist aber wohl eher ein Siegfrieden. Ein Frieden, der nur zu neuen Kriegen führen kann, die womöglich noch katastrophaler sein werden. Der Krieg in der Ukraine bestimmt längst unser tägliches Leben, vielleicht auch
unser Überleben. Wir können ihn jedenfalls nicht mehr ausblenden. Und wir sind Partei geworden, ohne dass wir das wollten. Genauso ging es der Zivilbevölkerung in allen Kriegen, über die ich berichtet habe. Nur tobten jene in sicherer Entfernung zu unserem Land.
«Ich erfuhr, wie brutal und unkontrollierbar die militärische Gewalt ist.»
Lange galt die Friedens- und Konfliktforschung als ein Spielfeld für weltfremde Utopisten. Heute besteht hier ein enormer Nachholbedarf. Wenn wir langfristig für den Frieden etwas tun wollen, müssen wir lernen, das Undenk-bare zu denken. Eben weil die Putins, Erdogans und all die anderen Potentaten dies tun. Frühe Zeichen müssen erkannt und ideologiefrei gewertet werden. Im Ukrainekrieg wurde diese Aufgabe – leider nicht rechtzeitig wahrgenommen.
Der Gastautor Werner van Gent (68) war 40 Jahre lang Auslandkorrespondent für diverse Schweizer Medien.
Nach Frieden streben – den Krieg ernst nehmen