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«Nutzt und erobert den Kirchenraum!»

von Interview: Sandra Hohendahl-Tesch, Video: Vera Kluser, reformiert.info
min
23.03.2023
Die erste Fashionschau im Grossmünster zog Hunderte von Modebegeisterten an. Pfarrer Christoph Sigrist, der den Event auf Initiative des Modeschöpfers Adam El Sahmi ermöglicht hat, erklärt im Interview, was im Kirchenraum alles denkbar ist und wo für ihn die Grenzen sind.

Christoph Sigrist, die erste Fashionschau im Grossmünster zog Hunderte von Modebegeisterten an. Sie haben den Event auf Initiative des Designers Adam El Sahmi ermöglicht und mitgestaltet. Wie war das Feedback auf diese Premiere im Grossmünster?
Von dem, was ich gehört habe, durchaus positiv. Designer und Models sind zu mir gekommen, sie waren sichtlich gerührt und haben sich innig bedankt, dass ich ihnen den Kirchenraum zur Verfügung gestellt habe. Für mich lässt das tief blicken: Anscheinend sind bestimmte Gruppen der Meinung, dass ihnen Kirchenräume verschlossen bleiben. Insofern gibt es eine Reibung zwischen diesen Bevölkerungsgruppen und dem Verhalten der institutionellen Kirche. Das ist bedenklich. Ich nehme das mit als einen der Hauptimpulse aus dem Event.

Inwiefern bedenklich und welche Gruppen meinen Sie konkret?
Es gibt zahlreiche solche Gruppen, seien es nun Leute aus der Modewelt oder als ganz anderes Beispiel Bewohner der «Herberge zur Heimat» in der Zürcher Altstadt. Letztere sagen, wir kommen sicher nicht in die Kirche, da gehören wir nicht hin. Dieses Narrativ, «ich gehöre da nicht dazu», ist für mich überraschend aufgepoppt am Samstagabend. Es stimmt mich nachdenklich, denn die Kirche soll Gastgeberin sein im Bewusstsein, dass der Kirchenraum nicht der Institution gehört, sondern der Stadtöffentlichkeit. Am Samstagabend kamen viele, die mir explizit gesagt haben, dass sie Atheisten seien. Aber sie waren sehr berührt von der Atmosphäre und den Psalmen, die ich für den Abend vorbereitet hatte. Sie nahmen diese als Fremdblick wahr, der sie zum Nachdenken brachte.

Sie sprechen die Psalmen an, in denen Sie die Gemeinsamkeiten von Mode und Kirche, von Text und Textur auf poetische Art und Weise herausgearbeitet haben. Was wollten Sie mit diesen liturgischen Elementen aussagen?
Mir war wichtig, dass die Leute, die in der Fashionwelt daheim sind, den Kirchenraum bewusst wahrnehmen. Denn da passierte etwas mit ihren Kleidern, die Psalmen sollten sozusagen die Spiritualität des Stoffes offenbaren. Es ist immer eine Gratwanderung in einem Pfarramt an einer Citykirche: Hält man sich ganz raus, lässt die Leute einfach gewähren, besteht die Gefahr, dass sie sich wenig öffnen gegenüber dem Spirituellen. Sagt man zu viel, wirkt das vielleicht kirchlich vereinnahmend. Mein Anspruch war es, die Saiten, die mit der Präsentation der Mode in Schwingung kamen, mit einer liturgischen Sprache zu ergänzen. Ich habe den Zeitpunkt der Modeschau verbunden mit dem, was vorreformatorisch im Kirchenraum passierte: Mit der Vesper. Inspiriert hat mich dabei der Sonnengesang von Franziskus von Assis, den ich neu designt habe.

Die Mode war ja zum Teil recht schrill und divers. Es gab auch einige Models, die äusserst leichtbekleidet waren, was gefühlt einen Kontrast zum zwinglianischen Geist des Grossmünsters bildet. Wurde das von einigen traditionellen Kirchgängerinnen und Kirchgängern nicht als Provokation empfunden?
Die waren ja gar nicht da. Ausser ein paar Personen aus der Kirchenkreiskommission, die reagierten positiv, von ihnen kamen spannende Rückfragen. Im Prinzip zeigt sich da das Problem: Wir haben Parallelgesellschaften innerhalb der Institution. Wenn gewisse Konfirmanden am Sonntag in den Gottesdienst kommen, erleben sie Ähnliches wie eine traditionelle Kirchengängerin an der Modeschau. Beide verstehen die jeweilige Sprache nicht. Für den 15-Jährigen ist es schwierig, eine Viertelstunde ohne Handy zuzuhören, mit der Gebetssprache kann er nichts anfangen, da zu Hause nicht mehr gebetet wird. Umgekehrt muss sich die Kirchgängerin auf die Modeschau einlassen können, die mit ihren Anblicken die diverse urbane Öffentlichkeit repräsentiert.

Wäre denn im Grossmünster auch eine Technoparty nach der Street Parade denkbar? Wo ziehen Sie die Grenzen?
Das Grossmünster ist nach wie vor ein Raum von Stille, Schwingung und Leere, der auf Naturton und Klang ausgelegt ist. Techno passt da nicht, auch wenn weltweit in vielen Kirchen schon Partys stattgefunden haben. Selbstverständlich ist ein Kirchenraum etwas Besonderes, sein heterotopischer Charakter muss erhalten bleiben, wie es auch die soziale Patina zu berücksichtigen gilt. Im Grossmünster wird es daher sicher nie ein Schwimmbad, eine Bank oder eine Migros geben. Ein Café oder ein Restaurant wiederum ist etwas anders, es handelt sich um einen sozialen Treffpunkt par excellence. Das Restaurant «blinde Kuh» in Zürich etwa ist auch in einer methodistischen Kirche untergebracht, das funktioniert bestens wie auch ganz viele andere Beispiele von Kirchenumnutzung hin zu einem Raum der Begegnung. Und dann gibt es natürlich rote Linien, die sowieso nie überschritten werden dürfen, dazu drei Stichworte: Gewalt, Kommerz und Menschenverachtung.

Können Sie das genauer erklären?
Wenn eine Veranstaltung oder ein Ereignis Gewalt zelebriert, geht das gar nicht, darunter fällt auch aggressive Musik. Kirchenraum und Kommerz sind ebenfalls schwierig zu verbinden, weil Gewinnstreben am kirchlichen Selbstverständnis ritzt. Tabu sind auch private Partys; ich hatte schon viele Anfragen von wichtigen Persönlichkeiten, die den Raum für Feste mieten wollten. Menschenverachtung als letzter Punkt heisst, dass man zwar physisch offene Kirchentüren hat aber von der institutionellen Seite her geschlossene Räume produziert, die Menschen mit ihren Grundrechten ausgrenzen.

Die Landeskirche verliert jährlich viele Mitglieder. Hand aufs Herz: Sind Events wie die Modeschau nicht ein PR-Instrument, um wieder vermehrt Leute in die Kirche zu holen?
Das ist ein falsches Bild. Viel mehr werden die Leute vom Kirchenraum angezogen, man muss sie nicht aktiv holen. Mein Ziel ist es nicht, dass die Leute, die eine Veranstaltung im Kirchenraum besuchen, am Sonntag in den Gottesdienst kommen. Meine Absicht ist es viel mehr, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass der Kirchenraum allen gehört. Darum sage ich: Nutzet und erobert ihn! Heutige Pfarrerinnen und Pfarrer müssen lernen, dass sich der exklusive Charakter des Gottesdienstes zu einem konstitutiven gewandelt hat. Die 800-jährige Sakralraumarchitektur des Grossmünsters wird heute wieder neu entdeckt. Dabei bindet sich das religiöse Empfinden oder die Spiritualität vermehrt an Klang und Resonanz statt an Reflexion der Predigt am Sonntagmorgen. Resonanz als sinnliche Erfahrung von Beziehungen und Schwingungen ist das neue Wort für Evangelium.

Dann ist das an der Modeschau bis auf den letzten Platz besetzte Grossmünster Beweis dafür, dass in der Gesellschaft durchaus der Wunsch nach Religiosität spürbar ist?
In der pluralistischen Gesellschaft existieren immer mehr religiöse Gruppierungen, die Interesse am Kirchenraum zeigen. So hat das interreligiöse Gebet in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Die Gruppe von Leuten, die am Kirchenraum partizipieren wollen, aber nicht Mitglieder der Landeskirche sind, hat sehr stark zugenommen. Sie besuchen auch vermehrt traditionelle Gottesdienstangebote oder nehmen teil an kirchlichen Ritualen. Dieser Transformation müssen wir Rechnung tragen, ihr gastgeberisch gerecht werden. Eine Citykirche muss allen gesellschaftlichen Gruppen offenstehen. Denn ihr Interesse am Kirchenraum zeigt, dass entgegen allen Anmahnungen und Verweisen auf den Mitgliederschwund eine starke Religiosität vorhanden ist.

 

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