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Fauxpas in der Stille-Meditation

Wenn der Glaube einem die Schuhe auszieht

von Stefan Degen
min
25.02.2023
Die Passionszeit ist traditionell die Zeit des Fastens und der Meditation. Der Journalist Stefan Degen hat «ein Sitzen in der Stille» in einer Kirche besucht und festgestellt, wie frei die Gedanken schweifen. Bericht eines Selbstversuchs.

Ich bin ein durch und durch nüchterner Zwinglianer. Meditation ist nicht mein Ding, zur Mystik habe ich kaum einen Zugang. Ruhe und Besinnlichkeit finde ich nicht im Kloster, sondern bei einem «Klösti» in der Beiz. Doch die Neugier überwiegt, und so mache ich mich auf in die Kirche Halden in St. Gallen. «Sitzen in der Stille» heisst das ökumenische Angebot. Es ist eine einstündige Meditation nach via integralis, einer Kontemplationsschule, die Übungen der Schweigemeditation des Zen-Buddhismus aufnimmt und mit christlicher Mystik verbindet. Spirituelle Leiterin ist die St. Gallerin Margrit Wenk-Schlegel, zusammen mit der evangelischen Theologin Regula Tanner.

 

Lotussitz, Kniebank oder Stuhl?

Rund dreissig Frauen und Männer haben sich in der ökumenischen Kirche eingefunden. Die Mehrheit bewegt sich in der Alterskategorie 50 aufwärts. Viele scheinen nicht zum ersten Mal hier zu sein. Die Atmosphäre ist angenehm, freundlich, aber nicht vereinnahmend. Leiterin Margrit Wenk-Schlegel begrüsst mich herzlich und fragt mich, wo ich sitzen möchte: vorne auf den Matten, in der Mitte auf Kissen und Kniebänken oder hinten auf Stühlen? Im Schneidersitz sass ich zuletzt im Kindergarten, Kniebänke bin ich nicht gewohnt, und beim Lotussitz verursacht schon der Gedanke daran Knieschmerzen. Also wähle ich den Stuhl.

Nun ist es still. Kein Räuspern, kein Knacken, kein Mucks. Die schlichte Liturgie beginnt. Die Leiterin sitzt vorne und spricht: «Wir sind gut geerdet, das Becken ist leicht nach vorne gekippt, die Wirbelsäule aufgerichtet. Der Kopf sitzt bequem auf der Wirbelsäule. Die linke Hand ruht in der rechten, die Daumenspitzen berühren sich leicht. Die Achtsamkeit lenken wir auf den Atem.» In dieser Position singen wir das Gebet von Bruder Klaus, vertont von Peter Roth: «Du, mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir.»

Dann ertönt dreimal eine Klangschale. Sie hat es mir angetan: Einmal angeschlagen, wird der Ton lauter, ­leiser und wieder lauter. Die Klangfarbe ändert sich alle paar Sekunden. Ich bin fasziniert. Welches physikalische ­Phänomen steckt wohl dahinter?, frage ich mich, während der Ton langsam entschwindet.

 

Einkaufsliste statt Erkenntnis

Still und nichts als Stille. Kein Räuspern, kein Knacken, kein Mucks. Das Sitzen wird unbequem. Vorsichtig versuche ich, die Position zu verändern, ohne ein Geräusch zu machen. Langsam wird mir langweilig. Unweigerlich drehen sich meine Gedanken darum, was ich auf dem Nachhauseweg noch einkaufen muss.


Mein Blick wandert umher und bleibt auf den Füssen vor mir haften. Socken! Alle haben die Schuhe ausgezogen – ich bin der Einzige, der vergessen hat, die Schuhe auszuziehen! Ich entscheide mich, meinen Fauxpas zu ignorieren – jetzt die Schuhe auszuziehen, hätte erst recht Aufmerksamkeit erregt. Nach einer gefühlten Ewigkeit geht es weiter mit einer Gehmeditation. Wie bei einer Polonaise schreiten wir hintereinander her, aber mit mehr Abstand, ohne Berührung und viel langsamer. Schritt für Schritt. So mäandern wir gemächlich durch die Kirche.


Zu viele Dimensionen

Kaum sind wir zurück am Platz, folgt eine weitere Schweigemeditation. Zum Schluss rezitieren wir einen Text, der mit «Ausrichtung der Kräfte» überschrieben ist. Doch die Worte gehen mir zunehmend schwer über die Lippen. Der damit verbundene Anspruch ist mir zu gross. Ich «diene der Menschheit, der Erde und dem Kosmos», heisst es da, «und achte alle Dimensionen der Schöpfung». Ich sei bereit, «in Verantwortung für kommende Generationen den Weg des Erwachens zu gehen» und «wahrhaft liebend zu werden».


Vielleicht liegt es ja nur daran, dass der Kopf von der Einkaufsliste verstopft ist, aber diese Vorsätze haben für meinen Geschmack ein paar Dimensionen zu viel. Ich finde es schon schwer genug, mit meiner nächsten Umgebung im Hier und Jetzt in Frieden zu leben, ohne Kosmos und kommende Generationen.

Doch da erinnere ich mich an die Gehmeditation: Ich fokussiere mich auf den nächsten Schritt. Und der führt mich geradewegs in die nächstgelegene Beiz. Bei einem «Klösti» finde ich Ruhe und lasse das erlebte Revue passieren – wenn auch nicht mehr ganz nüchtern.

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