«Wir müssen unsere Kultur des Hinschauens kontinuierlich weiterentwickeln»
Judith Borter, Präventionsbeauftragte der Reformierten Kirche Baselland, sagt, die Reformierte Kirche Baselland habe in den letzten Jahren wichtige Schritte unternommen, um wirksame Präventionsmassnahmen gegen sexualisierte Gewalt umzusetzen: «Ein zentrales Element ist die verpflichtende Einholung des Sonderprivatauszugs aus dem Schweizer Strafregister bei Neuanstellungen – insbesondere bei Berufsgruppen, die regelmässigen Kontakt mit Minderjährigen oder anderen besonders schutzbedürftigen Personen haben», sagt sie. «Mit der Verankerung der Präventionsarbeit in der neuen Kirchenordnung wurde zudem ein verbindlicher rechtlicher Rahmen geschaffen. Darüber hinaus orientiert sich unsere Präventionsarbeit am Schutzkonzept, das von der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz in Zusammenarbeit mit Limita, der Fachstelle zur Prävention sexueller Ausbeutung, entwickelt wurde. Dieses Konzept umfasst verschiedene Bausteine, die wir schrittweise umsetzen – etwa die Sensibilisierung und Schulung von Mitarbeitenden und Freiwilligen.»
Seit dem Jahr 2020 sind Schulungen für alle Mitarbeitenden in Seelsorge, Religionsunterricht, Diakonie und Jugendarbeit vorgeschrieben. Auch für Freiwillige werden entsprechende Weiterbildungen angeboten. Die Teilnehmenden werden in diesen Schulungen gezielt für Risikosituationen, subtile Machtasymmetrien sowie unbewusste Dynamiken im Arbeitsalltag sensibilisiert. «Unser Anspruch ist es, eine Kultur der Achtsamkeit, Transparenz und Rechenschaft zu fördern, in der Macht nicht verleugnet, sondern bewusst gestaltet wird», erklärt Borter.
Systemische Prävention dank Schutzkonzept
Zur Frage nach Anzahl Fällen pro Jahr sagt Borter: «Es gibt verschiedene Arten von Fällen und auch verschiedene Schweregrade. Es ist wichtig, dass man auch bei «leichten Grenzverletzungen» wie z.B. sexistischen Sprüchen oder nicht zur Rolle passenden Begrüssungsumarmungen, gut hinschaut und dass dieses Verhalten korrigiert wird. Strafrechtlich relevante Fälle sind selten. Jeder einzelne Fall ist einer zu viel!»
«Wir wissen, dass Machtverhältnisse ein Risikofaktor für Missbrauch sein können», sagt sie. «Deshalb setzen wir gezielt auf systemische Prävention.» Das Schutzkonzept der Reformierten Kirche Baselland deckt unter anderem die Bereiche Personalmanagement, Risikomanagement, Krisenmanagement und Beschwerdemanagement ab. Ziel ist es, strukturelle Bedingungen so zu gestalten, dass sie mögliche Übergriffe frühzeitig erkennen lassen – oder gar nicht erst entstehen lassen.
Wenn jemand eine Grenzverletzung beobachtet oder selbst betroffen ist, ist es wichtig, damit nicht allein zu bleiben. Ein erster Schritt kann sein, mit einer der offiziellen Meldestellen oder Ansprechpersonen Kontakt aufzunehmen – auch zur eigenen Entlastung. Die Reformierte Kirche Baselland stellt dafür klar geregelte interne und externe Meldewege zur Verfügung, die auf der Website veröffentlicht sind.
Prävention ist kein abgeschlossener Prozess
Innerhalb der Kirche stehen zwei gezielt geschulte Ansprechpersonen zur Verfügung. «Die klare Trennung von internen und externen Meldewegen ist uns wichtig», sagt Borter. «So können Betroffene selbst wählen, wo und mit wem sie sprechen möchten – in einem sicheren, geschützten Rahmen.»
Auf gesamtschweizerischer Ebene diskutiert die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz aktuell über weitere Schritte: An der Herbstsynode wird unter anderem die Einrichtung einer nationalen Meldestelle beraten. Ziel ist es, kirchliche Verantwortung zu stärken und den Schutz von Betroffenen noch besser zu gewährleisten.
Prävention sei allerdings kein abgeschlossener Prozess, so Borter. «Wir müssen unsere Kultur des Hinschauens, Ansprechens und Handelns kontinuierlich weiterentwickeln. Das bedeutet auch, Räume zu schaffen, in denen offen über das Thema gesprochen werden kann.»
Â
Â
«Missbrauch muss thematisiert werden»
Die Baselbieter Kirchenratspräsidentin Regine Kokontis erklärt, wie Kirchgemeinden Grenzüberschreitungen vorbeugen und welche Konsequenzen sie haben.
Regine Kokontis: «Prävention ist kein abgeschlossener Zustand, sondern ein kontinuierlicher Lern- und Kulturprozess.» | Foto: Sprecher
Â
Regine Kokontis, wenn sich ein kirchlicher Mitarbeiter vor Gericht verantworten muss, ist das eine grosse Belastung fĂĽr die Kirchgemeinden. Was wĂĽnschen Sie sich von den Gemeinden, damit besser hingeschaut wird?
Ganz zuerst soll gesagt sein: Wir bedauern ausserordentlich, wenn es in den Reihen kirchlicher Mitarbeitenden Menschen gibt, welche die Grenzen der Integrität nicht respektieren. Ich wünsche mir, dass in unseren Kirchgemeinden offen über Macht, Machtmissbrauch, Grenzen und Grenzverletzungen gesprochen werden kann – ohne dass gleich der Verdacht im Raum steht: «Habt ihr das nötig?» Solche Gespräche sind kein Misstrauensvotum, sondern Ausdruck von Verantwortung. Denn überall, wo Menschen miteinander unterwegs sind, braucht es Achtsamkeit im Umgang mit Machtverhältnissen.
Wie können die Gemeinden vorgehen, um Missbrauch vorzubeugen?
Die Reformierte Kirche Baselland will, dass bei allen, die mit vulnerablen Personen arbeiten, konsequent Sonderprivatauszüge und Strafregisterauszüge eingeholt werden. In regelmässigen Mitarbeitendengesprächen sollten Nähe, Distanz und Abhängigkeitsverhältnisse thematisiert werden können. Ausserdem ist mir wichtig, dass Vermutungen, Irritationen oder ungute Gefühle ernstgenommen und transparent angesprochen werden. Schliesslich geht es um die Bildung einer Haltung, die mehr beinhaltet als Kontrolle und Verhindern.
Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen in der Präventionsarbeit?
Eine der grössten Herausforderungen besteht darin, dass Prävention noch immer von manchen als Misstrauensbekundung verstanden wird. Wenn Menschen zu Schulungen eingeladen werden, fühlen sich einige vorschnell unter Verdacht. Dabei geht es in der Präventionsarbeit nicht um Kontrolle, sondern um gemeinsame Verantwortung. Wir alle brauchen regelmässige Sensibilisierung, ganz unabhängig von Funktion, Erfahrung oder Rolle. Es geht darum, das Bewusstsein zu schärfen, sich korrekt verhalten zu können, Verdachtsmomente richtig einzuordnen und handlungssicher zu sein. Ebenso wichtig ist, dass wir lernen, offen über Wahrnehmungen zu sprechen und uns gegenseitig in der Selbstreflexion zu stärken. Prävention ist kein abgeschlossener Zustand, sondern ein kontinuierlicher Lern- und Kulturprozess – und sie geht uns alle an.
Welche Konsequenzen hat eine Grenzüberschreitung, wenn es zum Beispiel um sexuellen Missbrauch geht? Verliert eine Pfarrperson dadurch ihre Wahlfähigkeit?
Sexueller Missbrauch ist eine Straftat, die vor Gericht gelangen muss. Einer Pfarrperson, die wegen einer sexuellen Straftat verurteilt ist, wird die Wahlfähigkeit abgesprochen. Sie kann also nicht in einer anderen Gemeinde weiterarbeiten. Innerhalb des Konkordats, Zusammenschluss von mehreren Landeskirchen, gilt ausserdem eine gegenseitige Meldepflicht der Kantonalkirchen: Wenn das Verhalten einer Pfarrperson für den Schutz anderer Menschen relevant ist, werden entsprechende Informationen weitergegeben. Dieses Verfahren ist verbindlich in Artikel 22 des Konkordats geregelt.
Grenzüberschreitungen unterscheiden sich in ihrem Schweregrad …
Nicht alle Grenzüberschreitungen sind rechtlich Straftaten, aber alle sollen besprochen und verhindert werden. Im Berufsalltag kann eine Grenzüberschreitung durch Unachtsamkeit passieren, dann sollte entsprechend der Schwere reagiert werden – aber es muss reagiert werden. Auch muss spiritueller Missbrauch thematisiert werden. Dazu ist die offene Gesprächskultur nötig und die Übung darin, diese Themen ehrlich und angemessen zu besprechen.
Die Synode der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) hat den Rat EKS letztes Jahr beauftragt, sich beim Bund für die Durchführung einer nationalen Dunkelfeldstudie zu sexualisierter Gewalt im kirchlichen und institutionellen Kontext einzusetzen und prüft, ob es zusätzlich eine spezifisch reformierte Studie braucht. Welche Bedeutung hätte eine solche Studie für Betroffene?
Für die Präventionsarbeit könnte eine Missbrauchsstudie zusätzliche Hinweise darauf liefern, wo besondere Risikobereiche oder strukturelle Schwachstellen bestehen. Damit würde sie die gezielte Weiterentwicklung von Schutzkonzepten unterstützen. Gleichzeitig darf die Prävention nicht von einer Studie abhängig gemacht werden. Dank Studien in anderen Kirchen, der Arbeit von Fachstellen sowie gesellschaftlichen Untersuchungen liegt bereits viel Wissen vor.  Z.B. dass Geschlechterstereotype und Rollenerwartungen eine Hürde für die Präventionsarbeit sein können. Da bleibt immer Arbeit zu tun, damit in Offenheit und Respekt jedem Individuum begegnet und nicht die Erfüllung von Rollenbildern über die Würde der einzelnen Person gestellt wird. Wichtig ist, dass all das Wissen konsequent umgesetzt wird: durch verbindliche Schulungen, gut erreichbare Meldestellen, klare Verfahren – dass eine Kultur des Hinhörens und Ernstnehmens wachsen kann.
Â
«Wir müssen unsere Kultur des Hinschauens kontinuierlich weiterentwickeln»