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Von der Freiheit nichts zu essen

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22.01.2018
Moses hat es getan, auch Jesus und selbst Mohammed. Und jetzt will ich es tun. Nicht in der einsamen Wüste im Sinai, sondern in der Agglomeration von Zürich. Flugzeuge donnern über die Dächer, der Berufsverkehr staut sich, und im nahen Einkaufszentrum locken Mangos, Tomaten und saftige Steaks in den Auslagen.

Damit ist für mich für die nächsten sieben Tagen Schluss. Ich nehme an einer Fastenwoche einer Kirchgemeinde teil, «ökumenisch, ganzheitlich» und auf die harte Tour. Null Kalorien, niente cara Pasta, nur Tee und Mineralwasser. Während sich der Magen leert, sollen Harmonie und Frieden in die Journalistenseele einkehren.

Schon die Ankündigung meines Vorhabens löst Gelächter aus. Frau und Kinder wetten, wie lange es geht, bis ich nachts zum Kühlschrank schleiche. Nein, erkläre ich selbstbewusst: «Diesmal habe ich mich im Griff.» 

Mit dem Fasten bin ich nicht -alleine. «Im Rahmen der Ökumenischen Kampagne fasten mehr als hundert Gruppen in den Kirchgemeinden», sagt Dorothea Loosli-Amstutz. Die Bernerin koordiniert seit fünf Jahren die Fastengruppen von «Brot für alle» und «Fastenopfer». Der Trend nehme zu, erzählt sie. Immer mehr Leute fasten, treffen sich während einer Woche einmal im Tag, feiern und denken über den sozialen Aspekt des Essens nach.

1. Tag

«Zu Essen bekommen Sie da nichts», grinst mich die Sechzigjährige an, als ich nach dem Pianoraum im Pfarreizentrum frage. «Sie sollten es sich nochmals überlegen.» Mache ich nicht. Kurz darauf sitze ich in der Fastengruppe in einem Kreis, in der Mitte liegt ein violettes Tuch. Dreissig, meist Ältere und Frauen, sind gekommen. Die Erfahrenen blicken selbstbewusst in die Runde, wir Greenhörner rutschen unsicher auf den Stühlen herum. 

«Chaos und Ordnung» lautet das spirituelle Thema der Woche. In der Runde berichten einige von Loslassen, neuen Freiheiten und wöchentlichem Putzen. Ordnung ist nicht meine Tugend. Im Gegenteil, das Chaos ist die Quelle meiner Inspiration. Kann mich jemand, der sich aufs Staubsaugen freut, verstehen? Ich schweige lieber. 

Später verteilt der Arzt mit der Figur eines Marathonläufers das Glaubersalz, zur Darmentleerung. Nette Bezeichnung für eine scheussliche Sache. Zu Hause schlucke ich 50 Gramm davon in einem Zug, aufgelöst in Wasser. Ich bekomme Brechreiz. Zwei Stunden später meldet der Darm mit lautem Poltern: «Shit happens!» Ich eile zur Toilette. Es stinkt, als habe der Leibhaftige sein Geschäft verrichtet. Zum Glück schläft die Familie.

2. Tag

Der Tag ohne Essen fällt mir leicht, wenn nur das Kopfweh nicht wäre. Der Arzt erklärt mir, ich sollte mehr Wasser und Tee trinken. Die Kopfschmerzen seien eine Reaktion auf den Kaffeeentzug. Am Abend sind sie verflogen. Ich fühle mich gut, beinahe euphorisch. Alles wird klarer, die Sinne sind geschärft, auch ohne Kaffee. Das Leben wird leicht.

Fasten sensibilisiere für das Thema Nahrung, sagt Loosli-Amstutz. Wenn der Magen knurrt, wird vielen bewusst, was sie essen. Sie hinterfragen ihren Konsum, etwa von Fleisch. Sie merken, wie ihr Essverhalten die Lebensbedingungen in anderen Ländern beeinflusst. «Die Zusammenhänge sind uns oft nicht bewusst», sagt Loosli. 

3. Tag

Ich fühle mich schwach und kraftlos. Und friere. An diesem Samstag nieselt es. Ich ziehe einen dicken Pullover über. Der Körper bedient sich an den Fettreserven. Der Abbau führt zu Ausdünstungen. Peinlich! Heute macht die Gruppe einen Spaziergang durch den Frühlingswald, um die erwachende Natur zu erleben. Liebe Eichen, Ulmen und Buchen verzeiht, dass ihr auf meine Zuneigung verzichten müsst. Ich bleibe lieber zu Hause.

Die Konzentration lässt nach, das Arbeiten fällt schwer. Alles dreht sich ums Essen. Meine Nase hat die Sensibilität eines irischen Jagdhundes. Komme ich an einer Bäckerei vorbei, duftet es nach frischen Brötchen. Verspeist jemand ein Sandwich, rieche ich die Mayonnaise, den Schinken und die Gurke aus fünf Metern. Ich studiere Menükarten vor den Restaurants und stelle mir das saftige Cordon bleu mit Pommes Duchesse vor. So geht es nicht weiter: Ich beschliesse, mit einem Glas Tomatensaft zu sündigen. Nach ein paar Schlucken geht es mir besser. 

Als ich dies am Abend dem Pfarrer beichte, meint er lächelnd, er mache dies genauso. Er könne sonst nicht arbeiten. Sei willkommen, Bruder im Fleische.

Das Fasten öffnet einem die Augen, was es für Menschen bedeutet, Hunger zu leiden und täglich ums Essen kämpfen zu müssen, sagt später Dorothea Loosli-Amstutz.

Schluss

Die Woche endet mit dem Fastenbrechen in der Gruppe. Alle sind euphorisch. Nach sieben Tagen beisse ich erstmals wieder in einen Apfel. Die Sinne sind gespannt. Vorsichtig knabbere ich an der Schale. Und dann: Der süss-säuerliche Geschmack breitet sich im Mund aus. Genussekstase pur! Kein Wunder, konnten Eva und Adam dem Paradiesapfel nicht widerstehen.

Was gewinnt man durchs Fasten?  «Freiheit», sagt Loosli-Amstutz. Man erlebt, dass man dem Konsum nicht völlig ausgeliefert ist und selber entscheiden kann. «Wir sind nicht so schwach, wie wir glauben. Durch das bewusste Essen werden die Mahlzeiten zu einem besonderen Erlebnis.»

Epilog

Zwei Wochen später: Welt des Konsums, ich bin zurück. Bereichert um die Einsicht, dass ich nein sagen kann. Meine Liebsten staunen, dass ich die sieben Tage durchgehalten habe. (Das mit dem Tomatensaft habe ich ihnen nicht verraten.) Und den Betrag, den die Gruppe durch das Fasten gespart hat, haben wir gespendet.

Die guten Vorsätze verblassen im Laufe der nächsten Tage. Die fünf Kilos, die ich verloren habe, sind bald wieder auf den Rippen. Aber ich weiss: Nächstes Jahr bin ich zurück und faste.

Tilmann Zuber, Kirchenbote, 22.1.2018

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