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Gleichbetroffene geben sich Kraft: Selbsthilfegruppen boomen

von Katharina Kilchenmann
min
13.04.2023
Wenn Menschen mit physischen, psychischen oder sozialen Herausforderungen sich gegenseitig unterstützen, gewinnen alle: die Betroffenen, das Gesundheitssystem, die Gesellschaft.

Dass der 68-jährige Berner, der gerne Frauenkleider trägt, nun eine Selbsthilfegruppe gründet, konnte man kürzlich in einer Pendlerzeitung lesen. Der Mann will sich mit Gleichgesinnten darüber austauschen, was es bedeutet, mit dem Phänomen «Crossdressing» zu leben. Noch stehe die Entwicklung dieser Gruppe ganz am Anfang, meint Daniela Baumgartner vom Beratungszentrum Bern von Selbsthilfe BE. «Aber wir unterstützen auch dieses Anliegen mit unserer Fachkompetenz und unseren Erfahrungen.»

 

Die Stiftung Selbsthilfe Schweiz

Schweizweit existieren etwa 2800 Selbsthilfegruppen zu über 300 Themen. Rund 45‘000 Menschen nehmen regelmässig an Treffen teil. 22 Regionale Selbsthilfezentren koordinieren und begleiten die Gruppen. Die Stiftung «Selbsthilfe Schweiz» agiert als Koordinations- und Dienstleistungsstelle. Sie hat seit 2001 einen Leistungsauftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV), den sie zusammen mit den Selbsthilfezentren und fünf Selbsthilfeorganisationen erfüllt. (Angaben der Stiftung Selbsthilfe Schweiz 2022)

Baumgartner weiss, was es braucht, um eine Selbsthilfegruppe zu realisieren. Sie begleitet Initianten von der Idee über die Ausschreibung bis zur Planung der Räumlichkeiten. Sie organisiert Fachpersonen, begleitet die ersten drei Treffen und denkt mit, wenn es um Regeln und Strukturen geht. «Ansonsten sind die Teilnehmenden die Experten. Sie gestalten die Treffen und führen sie weiter», betont die Sozialarbeiterin. «Sie tauschen ihre Erfahrungen aus, knüpfen Beziehungen unter Gleichbetroffenen und stärken damit sich selbst und andere.»

 

Diagnose Angststörung

So zum Beispiel Claudia. Sie ist 24 Jahre alt, gelernte Köchin, leidet unter Angststörungen und hat vor gut zwei Jahren eine Selbsthilfegruppe gegründet. «Erste Panikattacken hatte ich in der Schule», erzählt sie. Atemnot, ein Engegefühl in der Brust und Angst, ohnmächtig zu werden. «Niemand wusste, was mit mir los war – auch ich nicht.» Sie sei bis dahin ein ganz normales Kind gewesen, und es habe eine Weile gedauert bis eine Psychologin die Diagnose Angststörungen stellte.

 

«Da habe ich gemerkt, dass ich jetzt selber Verantwortung übernehmen muss, und zwar rasch.»

Claudia, 24, Gründerin einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit Angststörungen

 

Für Claudia folgten schwierige Jahre: Schulverweigerung, Lehrabbruch, stationärer Aufenthalt in der Psychiatrie, Leben in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft, Psychotherapie. Gerade als es ihr etwas besser ging - sie hatte eben die Lehre als Köchin abgeschlossen - fing die Corona-Pandemie an und ihre Ängste nahmen wieder zu. «Da habe ich gemerkt», meint die junge Frau rückblickend, «dass ich jetzt selber Verantwortung übernehmen muss, und zwar rasch.» Sie nahm Kontakt mit Selbsthilfe BE auf und startete Ende 2020 mit dem Aufbau einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit Angststörungen.

Heute trifft sie sich alle zwei Wochen mit Menschen, die mit ähnlichen Themen zu kämpfen haben; verschickt Whats-App Nachrichten als Erinnerungshilfe an Teilnehmerinnen und ist im Kontakt mit Mitarbeitenden von Selbsthilfe BE, die sie bei Fragen rund ums Thema gemeinschaftliche Selbsthilfe unterstützen.

 

Angebote der Stiftung Selbsthilfe Schweiz:

Selbsthilfegruppen finden

Regionale Selbsthilfezentren

 

Die Selbsthilfegruppe in der heutigen Form hat ihre Vorläufer in der Arbeiter-, Frauen- und Jugendbewegung im 19. und 20. Jahrhundert. Es wurden zahlreiche Vereine und Organisationen gegründet, die einen freien Austausch von Gleichgesinnten ermöglichten. Seither ist die gemeinschaftliche Selbsthilfe in stetem Wandel: von A wie «Alkoholismus» oder «Attacken durch feinstoffliche Energien» bis Z wie «Zeckenkrankheiten» oder «Zwangsstörungen» finden sich Angebote im körperlichen, psychischen und im sozialen Bereich. Wobei sich immer mehr Menschen für psychosomatische und psychologische Themen interessierten, wie die Dachorganisation Selbsthilfe Schweiz mitteilt.

 

Selbsthilfe mit Gott

Narcotics Anonymous (NA) ist die grösste weltweit aktive Selbsthilfegruppe von Drogensüchtigen. Auch in der Schweiz gibt es wöchentlich Meetings. In einem 12-Schritte-Programm (siehe unten) wollen sie gemeinsam clean bleiben. Wichtig dabei ist der spirituelle Ansatz, mit dessen Hilfe die Betroffenen ihr Leben aufräumen und neu ausrichten können.

Zur Website von Narcotics Anonymus

 

Eine Studie der Hochschule Luzern und Universität Lausanne von 2017 zeigt auf, dass sich Selbsthilfe in individuellen und gesellschaftlichen Bereichen positiv auswirkt. Sie ergänzt die Gesundheitsversorgung und den Sozialbereich und leistet einen wertvollen Beitrag zur Prävention.

«Und manchmal tut es einfach gut, sich zu treffen», sagt Claudia. Auch wenn sie in der Gruppe nicht immer nur über ihre Probleme sprechen würden: «Ich bin froh zu wissen, dass es noch andere Menschen auf dieser Welt gibt, die nicht immer alles im Griff haben. Das verbindet uns, dafür bin ich dankbar.»

 

 

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