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«Ich wollte keinen Tag länger bleiben»

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16.03.2022
Die Ukrainerin Darja und ihr Mann Ibrahim sind Ende Februar mit ihrem Sohn Andrij aus Odessa geflüchtet und sitzen seither im ungarischen Grenzort Záhony fest. Wie es weitergeht, weiss die junge Familie nicht.

Am schlimmsten seien die Sirenen gewesen, dieses langgezogene Geheul, erst nur zwei oder dreimal am Tag, dann jede neue Stunde. Am Radio wurde gesagt, die Russen kommen von allen Seiten, auch mit Kriegsschiffen. Sie wollen sich die Perle am Schwarzen Meer holen, wie die ukrainische Metropole Odessa mit rund einer Million Einwohnern auch genannt wird. Dann begann sich die Bevölkerung zu verschanzen, die Strassen wurden abgeriegelt, man baute Barrikaden aus Sandsäcken. Die Angst machte sich breit, auch bei Darja. «Ich dachte nur noch an meinen Sohn Andrij, ich wollte keinen Tag länger bleiben.» So überredete sie ihren Mann Ibrahim und ihre Mutter Sofia, das Nötigste zu packen: Ausweise, ein paar Kleider, Spielzeug, den Laptop.

Keine Freunde im Ausland
Das war am 28. Februar, nur vier Tage, nachdem der russische Präsident Wladimir Putin seinen Angriff auf die Ukraine startete. Jetzt sind Darja und ihre Familie in Záhony, einem kleinen Bahnhof an der ungarischen Grenze – und wissen nicht weiter. Freunde oder Bekannte im Ausland haben sie nicht. Ibrahim stammt aus dem Sudan, er musste vor zehn Jahren aus politischen Gründen fliehen, ein Zurück gibt es nicht. Die Ukraine wurde seine zweite Heimat, dort hat er studiert, später eine Anstellung gefunden. Der 30-Jährige besitzt zwar eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung, aber keinen ukrainischen Pass. Deswegen wurde er nicht, wie alle anderen ukrainischen Männer zwischen 18 und 60 Jahren, ins Militär eingezogen. «Ein Glück, ich würde es allein nicht schaffen», sagt Darja.

Ein mulmiges Gefühl
Anfänglich wollte die Familie an die polnische Grenze, aber dann kursierten Videos mit Geflüchteten aus Afrika, die in Kyiv oder Charkiw lebten und an der Grenze zurückgewiesen wurden. Doch auch beim Gedanken an Ungarn hatte Ibrahim zunächst ein mulmiges Gefühl. Er wusste, dass die ungarische Regierung mit Geflüchteten aus dem Nahen und mittleren Osten wie auch aus afrikanischen Ländern keineswegs zimperlich umgeht.

Tatsächlich hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán in der Vergangenheit eine konsequente Abschottungspolitik betrieben, erst mit dem Bau eines 175 Kilometer langen Zauns an der ungarisch-serbischen Grenze, dann mit oft gewaltsamen Rückschiebungen von Geflüchteten. Derzeit aber ist von Orbáns Hetze gegen Flüchtlinge nichts zu hören, im Gegenteil: Erst vor einer Woche besuchte er am ungarischen Grenzort Beregsurány die ukrainischen Geflüchteten und versicherte ihnen: «Wir werden alles tun, um euch zu helfen.»

Viele helfende Hände
Tatsächlich: Wer sich diese Tage an der 137 Kilometer langen ungarisch-ukrainischen Grenze aufhält, kann viele helfende Hände sehen: Gemeinden, die ihre Turnhallen zu Massenlagern umfunktionieren, Privatpersonen mit Bussen, die Fahrten nach Budapest anbieten, Organisationen, die für die ukrainischen Geflüchteten Essen schöpfen. Viele von ihnen sind christliche Hilfswerke, darunter lokale Gruppen, aber auch international tätige Organisationen wie der Malteser Hilfsdienst oder die ungarische Caritas; auch Scientology und die Zeugen Jehovas bietet ihre Dienste an.

Obschon die ungarische Regierung sowie lokale Politiker den Geflüchteten ihre Hilfe zusichern, sind es vor allem solche Hilfswerke und Private, die derzeit am Bahnhof von Záhony für das Nötigste sorgen. Auch die Familie von Darja ist froh um diese Hilfe. «Wir bekommen zu essen, ich kriege Babynahrung für Andrij, es hat eine Spielecke für Kinder, wir können uns ausruhen und wieder zu Kräften kommen.»

Endet die Reise in Deutschland?
Inzwischen haben Darja und ihre Familie ein Angebot von Privaten bekommen, sie mit dem Auto nach Budapest und weiter nach Deutschland zu bringen. Was sie dort erwartet, das wissen sie nicht. Darja hofft, der Krieg möge bald ein Ende nehmen. Noch immer kann sie nicht fassen, was passiert ist. «Vor drei Wochen war alles normal, ich bereitete das Mittagessen zu, am Nachmittag ging ich für ein paar Stunden arbeiten.» Mit ihrer Freundin hat Darja voriges Jahr einen Coiffeursalon eröffnet. «Das Geschäft war mein Traum. Und der soll jetzt zerstört werden?» Darja schüttelt den Kopf und verscheucht ihre dunklen Gedanken wie eine lästige Fliege.

Text und Bilder: Klaus Petrus, kirchenbote-online.ch

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