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Ein Buch will mit viel Kritik die Corona-Diskussion befruchten

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05.09.2022
Mit «Der Corona-Elefant» haben teils bekannte Kritiker von Massnahmen während der Pandemie ein reichhaltiges Buch herausgegeben. Es soll die Diskussion fördern.

«Aufgrund ihrer Reichweite und Eingriffstiefe ist die Corona-Situation mit noch nicht absehbaren Folgen kaum einschätzbar.» Aktuell liessen sich nur «Spuren der Corona-Krise» erkennen, schreiben die Theologin und Medizinethikerin Ruth Baumann-Hölzle und Daniel Gregorowius, Biologe, Geograph und Umweltethiker, in ihrem Beitrag im Buch «Der Corona-Elefant».

Dieser Feststellung kann wohl diskussionslos zugestimmt werden. Die Corona-Pandemie hielt während fast zwei Jahren die Welt in Atem. Jetzt ist sie zwar weitgehend verdrängt in der öffentlichen Diskussion – aber Auswirkungen davon sind noch längst nicht alle bekannt und verarbeitet, die Pandemie selbst noch längst nicht gegessen, aus und vorbei. Und um die Reflektion darüber beziehungsweise über den Umgang mit der Pandemie zu fördern, hat eine Gruppe von Fachmenschen die Beitragssammlung in Buchform publiziert.

Und doch vor allem Kritik
Explizit wollen die Herausgeber das Werk nicht abschliessend verstanden haben. Weil die Diskussion noch lange anhalten werde, begleite eine Website (corona-elefant.ch) das Thema. Betreut wird diese offenbar von den Herausgebern des Buches. Das sind der Gesundheitsökonom und Titularprofessor Konstantin Beck, der Rechtsprofessor Andreas Kley, der Ökonom und Titularprofessor Peter Rohner und der ehemalige St. Galler Chefarzt Pietro Vernazza.

Zwar betonen die Herausgeber im Vor-Vorwort, es gehe mit der Sammlung der 23 Beiträge nicht darum, Kritik zu üben an den Corona-Massnahmen oder an den Massnahmen-Kritikern. Die Selbstdeklaration wirkt aber angesichts der Ausrichtung der Beiträge nicht ganz dem nachfolgend Gedruckten entsprechend. Implizit oder explizit sind alle zumindest teilweise kritisch.

Individuelle Wahrnehmungen zusammennehmen
Und doch lobt im Vorwort Marcel Tanner, Epidemiologe und Mitglied der damaligen wissenschaftlichen Corona-Begleitgruppe des Bundes, es handle sich bei dem Buch um «ein Gesamtbild, das uns Vertrauen schenkt und die nötigen Ein- und Ausblicke gibt». Zugleich erklärt er den Titel des Buches als fernöstliches Gleichnis, wo eine Gruppe Blinder einen Elefanten zu erfassen und beschreiben versuchen, aber wegen der individuellen Wahrnehmungen auf ganz unterschiedliche Schlussfolgerungen kommen – so stehe das Problem der Sars-Cov-2-Pandemie im Raum.

Hehres Ziel der Herausgeber ist gemäss eigenen Worten, dass «Wege zur besseren Bewältigung der nächsten globalen Herausforderung aufgezeigt werden». Dass dies schwierig zu erreichen ist, darauf weist bereits die fachliche Vielfalt der Beiträge hin: Die zwei Autorinnen und 22 Autoren tragen in fünf Kapiteln mit oft nicht einfach verständlichen und eher für wissenschaftlich geschultes Publikum geschriebenes Wissen, Einsichten und Einschätzungen zusammen. Eingeordnet sind die Beiträge unter Recht und Politik, Betriebswirtschaft und Management, Gesundheit und Prävention, Volkswirtschaft und Statistik sowie Philosophie und Ethik.

Die Krise betont die Gesellschaft
Ludwig Hasler liefert zu Beginn des Buches das am verständlichsten geschriebene Kapitel – über «die Macht der Hintergedanken». Der Philosoph und Autor analysiert treffend und nachvollziehbar, warum wir in der Corona-Krise so denken und handeln, wie wir es tun. Einen Grund ortet er darin, dass die Gegenwart den Experten gehört, die alles erklären und belegen können. Doch der Mensch ist mehr: Wir haben immer auch die grossen Fragen in uns, die Hintergedanken: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was sollen wir?

Im Normalfall beantwortet der Mensch in der Gesellschaft solche Fragen ziemlich indiviuell – und mit unterschiedlichen Antworten – und pragmatisch. Doch in der Zeit der Krise, des Lockdowns, der aussergewöhnlichen Lage spitzen sich Empörungen, Wut, Unverständnis auf allen Seiten zu. Denn das individuelle Verhalten geht nicht mehr nur einen selbst was an, sondern muss auch als Mitglied der Gesellschaft taugen.

Wir exzentrische Wesen
Die allgemeine Gereiztheit verortet Hasler ausserdem darin, dass dem Menschen als sozialem, «exzentrischen» Wesen – das sein Zentrum eben nicht einfach nur in sich selbst, sondern in Erzählungen und Geschichten findet, die es mit andern zusammen entwickelt –, in der Moderne und im vernunftbestimmten Zeitalter die Möglichkeit geschwunden ist, sein Wesen auszuleben. Und wenn im Krisenfall plötzlich die gut laufenden Routinen nicht mehr funktionieren, verlieren wir den Boden unter den Füssen, weil sonst nirgends mehr Perspektiven sind.

Ludwig Hasler begründet weiter, warum wir uns wieder mehr mit dem Tod und dem Danach anfreunden sollten und weshalb gesund sein nicht das höchste aller Lebensziele sein darf. «Wir leben immer gesünder – und fühlen uns immer kränker», schreibt er. Wir sind absolute Weltspitze in der Psychiatrie-Dichte – obwohl es uns doch eigentlich so gut geht. «Ergo: Vergesst die Gesundheit, verliebt euch!», ruft der Philosoph auf. Am Leben dranbleiben sei das Ziel. Und das Recht auf Unglück auch leben zu können.

Verletzt an Seele, Leib und Leben
Nach vielen trockeneren Kapiteln über Wirtschaft, Politik, Recht und Medizin mit viel belegter und teils sicher auch berechtigter Kritik an Corona-Massnahmen folgt fast zum Schluss des Buches noch eine Einordnung der «moralischen Spuren und Eskalationsstufen in der Corona-Krise» von den eingangs erwähnten Ruth Baumann-Hölzle und Daniel Gregorowius. Zwar sei noch vieles nicht klar und ausgesessen, aber eines sei bereits gewiss, halten sie fest: «Die Pandemiesituation hat viele Menschen weltweit betroffen und sie an Seele, Leib und Leben verletzt.»

Die Betroffenheit ziehe sich in alle «Lebensdimensionen». Sie bündeln die Vorkommnisse in je drei Eskalationsstufen auf Sicht der Betroffenen und der Handelnden. Bei den Betroffnen geht es vom moralischen Stress über moralische Verletzungen bis hin zu moralischen Zusammenbrüchen. Handelnde haben vom moralischen Versagen über moralische Verfehlungen bis moralischen Verbrechen zu verantworten.

Moralische Eskalationsstufen
Die Autorin und der Autor sehen auf der Betroffenenseite die höchste Eskalationsstufe während der Corona-Krise gegeben – etwa in der Zunahme von Suiziden und psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen oder auch bei äusserster Verzweiflung von medizinischem Personal. Ein moralisches Verbrechen hingegen lasse sich bisher nicht eindeutig ausmachen. Doch einen Wahrheitsanspruch erheben Baumann-Hölzle und Gregorowius explizit nicht. «Repliken und Einspruche sind willkommmen», schreiben sie.

Tatsächlich ist das ganze Buch eine grosse, reichhaltige Fundgrube für alle, die die Corona-Pandemie verarbeiten, analysieren und einordnen wollen. Und im besten Fall Lehren daraus ziehen, um es besser zu machen. Dabei ist es naheliegend, dass das Werk – wie die Pandemie selbst – ein ordentliches Stück Aufwand und Einsatz erfordert.

Marius Schären, reformiert.info

Konstantin Beck u. a. (Hrsg.): Der Corona-Elefant. Vielfältige Perspektiven für einen konstruktiven Dialog, Versus-Verlag, Zürich 2022. 302 Seiten, 36 Fr.

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