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Kultur

Dürrenmatts «Besuch der alten Dame»

Rache, Gier und Macht: Güllen ist überall

29.10.2021
In der Inszenierung von Dürrenmatts «Besuch der alten Dame» im Effingertheater steht Claire Zachanassian im Zentrum. Die Frau, die sich rächt - mit den Methoden des Patriarchats.

Güllen ist bekannt. Die Kleinstadt, in der die junge Klara Wäscher nach einer «Amour Fou» mit Alfred Ill schwanger wurde, den Vaterschaftsprozess verlor, ihre Heimat verliess, um nach 45 Jahren als milliardenschwere Erbin zurückzukommen, und sich zu rächen: am einstigen Geliebten, an der ganzen Stadt.

Auch die Güllener sind bekannt. Verarmt sind sie, unzufrieden und schnell bereit, auf das Angebot der Zachanassian einzugehen, um sich und die Stadt zu retten. Als eingeschworene Gemeinschaft finden es die Güllener moralisch vertretbar, Alfred Ill für schuldig zu erklären, ihn umzubringen, und das Geld der Wohltäterin anzunehmen.

In der Geschichte, wie Dürrenmatt sie erzählt, sei der Fokus auf den Güllenern und ihrer Verführbarkeit, meint die Dramatikerin Gornaya. Die Schweizerin, deren künstlerische Wurzeln in Riga liegen, hat in Zusammenarbeit mit Alexander Kratzer, dem künstlerischen Leiter des Effingertheaters, eine Neufassung geschrieben. Darin stellt sie die Beziehung und das Leben der beiden Hauptfiguren ins Zentrum. «Mit meinen Texten erzähle ich das, worüber bisher nicht gesprochen wurde, obwohl es im Stück von Dürrenmatt angelegt ist.»

Wie aus Kläri die «Zachanassian» wurde
Wie und warum wurde aus Klara Wäscher Claire Zachanassian? Und wie funktionieren bürgerliche, patriarchale Strukturen, Sexismus und Machtmechanismen damals in Güllen und bis heute auf der ganzen Welt? «Die Frau, die dem Stück den Namen gibt, tritt bei Dürrenmatt gar nicht so oft auf und bleibt eher in Hintergrund», weiss Gornaya. «Sie wird meist als groteske Alte mit einer – im ursprünglichen Wortsinn – komischen Entourage dargestellt. Mich interessierte jedoch die Geschichte dieser Frau.»

Zum neuen Fokus passt, dass in Alexander Kratzers Inszenierung die Kleinstädter durch Puppenspiel dargestellt werden. Nebst den vielen Masken mit beweglichen Unterkiefern sind insbesondere der Bürgermeister, der Pfarrer, der Lehrer, der Polizist, der Arzt und Mathilde erkennbar verkörpert. Sie werden von einer Schauspielerin und einem Schauspieler in Szene gesetzt.

Claire «kauft» sich den einstigen Geliebten
Echte Menschen sind lediglich Ill und Claire. Claire hält Rückschau, erzählt aus ihrem Leben und macht deutlich, wie aus dem lebensfrohen und liebenden Mädchen die berechnende, rachsüchtige Frau wurde, die den einstigen Geliebten vernichtet. «Wir wollen zeigen, was dazu geführt hat, dass Klara hart und gefühllos wurde. Was sie antreibt, mit den Mitteln der patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft Rache zu nehmen.»

Natürlich sei die Art von Selbstermächtigung dieser Frau brutal, meint Gornaya. Aber auch das Verhalten des jugendlichen Ill inmitten der Güllener Männergesellschaft sei schliesslich moralisch verwerflich. «Und der Wankelmut der Güllener erscheint vor dem moralischen Anspruch, den sie mehrfach betonen, doppelt grotesk.»

Trotzdem, die Themen seien aktuell und die Figuren in Dürrenmatts Stück würden uns den Spiegel vorhalten. «Sie handeln nach den herrschenden Gesetzen der Macht, des Kapitalismus, des unbedingten Vorteils auf Kosten anderer», fasst die Dramatikerin zusammen. «Das mag überspitzt wirken, doch es ist unsere Realität, bis heute.» 

Katharina Kilchenmann, reformiert.info

«Der Besuch der alten Dame» im Theater an der Effingerstrasse, Bern
Regie: Alexander Kratzer, Bearbeitung: Gornaya, Bühne: Peter Aeschbacher, Kostüme und Puppen: Katia Bottegal, Licht: Marek Streit, Dramaturgie: Christiane WagnerMit: Melanie Herbe, Hannes Perkmann, Katharina Halus, Josef Mohamed
Premiere: 30. Oktober 2021, 20 Uhr, Weitere Aufführungen: 1.–6. November (20 Uhr), 7. November (17 Uhr), 9.–13. November 2021 (20 Uhr), 14. November (17 Uhr), 16.–20. November 2021 (20 Uhr), 22.–27. November 2021

Friedrich Dürrenmatt: «Der Besuch der alten Dame»
Provinzkaff mitten in der Schweiz. Güllen ist finanziell heruntergewirtschaftet, das Städtchen ein Sanierungsfall, die Bevölkerung lebt auf Pump. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer. Claire Zachanassian, die als Kläri Wäscher vor 45 Jahren fluchtartig ihre Heimat verliess, kehrt als reiche und prominente Frau nach Güllen zurück. Ihre Ankunft wird heiss ersehnt, sie ist als spendabel bekannt. Auch Alfred Ill wartet mit dem Empfangskomitee am Bahnhof. In ihrer Jugendzeit waren er und Kläri ein Liebespaar. Die Zukunft stand ihnen offen. Als sie schwanger wurde, leugnete er die Vaterschaft vor Gericht mithilfe von bestochenen Zeugen. Jetzt kehrt Claire zurück und mit ihr alle Erinnerungen. Nach der Uraufführung 1956 in Zürich wurde «Der Besuch der alten Dame» rund um den Globus gespielt. Friedrich Dürrenmatt inszenierte das Stück 1959 am Theater an der Effingerstrasse, dem damaligen Atelier Theater.

Gornaya
Gornaya, deren künstlerische Wurzeln in Riga liegen, ist in der Nähe von Basel aufgewachsen. Nach der Matura nahm sie in Basel das Studium der Germanistik und Geschichte auf. Mit 23 Jahren zog sie nach Düsseldorf, wo sie ihr Studium beendete und anschliessend in Literaturwissenschaft promovierte. Seit 2004 lebt sie in Bern/Köniz. Im Rahmen ihrer Hausautorenschaft bei Konzert Theater Bern in der Spielzeit 2016/17 wurde Tobias Krüger das Stück «Island. Als Freunde sind wir erbarmungslos» uraufgeführt sowie eine musikalisch-literarische Soirée über den Schweizer Komponisten Friedrich Theodor Fröhlich. Im gleichen Rahmen entstanden für die Jazz-Liederabende «Tresor» aphoristische Texte zu den Themen Heimat, Liebe und Hass. Gornayas Stück «Nanjing. The Future» wurde am Volkstheater Wien 2017 uraufgeführt.


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