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«Auch bewusst Nichtgläubige haben etwas, was ihnen heilig ist»

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08.09.2022
Die christliche Botschaft der Gottes- und Nächstenliebe sei aktueller denn je, sagt der Sozialphilosoph Hans Joas. Ihn beschäftigt, wie man in der heutigen Zeit zu einer «moralisch universalistischen und intellektuell vertretbaren Religiosität» finden kann.

Hans Joas, viele Touristen besuchen in den Ferien Kathedralen und Kirchen. Erfahren sie da etwas vom Heiligen?
Das ist sicher von Fall zu Fall verschieden. Viele Leute machen beim Betreten einer Kirche einen Schritt heraus aus dem Alltäglichen. Wie sehr sie diesen Schritt als wirkliche Begegnung mit dem Heiligen erleben, kann man nicht verallgemeinernd sagen. Hinzu kommt, dass vielen heute aus Mangel an religiöser Bildung der Zugang zu den Darstellungen fehlt. Sie können die biblischen Szenen und Heiligenfiguren gar nicht deuten. Dann bleibt nur ein vager ästhetischer Gesamteindruck.

Auch wenn heute vielen das religiöse Wissen fehlt, stellt sich die Frage, ist jeder Mensch gläubig?
In einem religiösen Sinne sicher nicht. Es gibt sehr bewusst nicht-religiöse Menschen und noch mehr Gleichgültige. Aber auch die sehr bewusst Nichtgläubigen haben etwas, was ihnen heilig ist.

In Ihrem Buch «Die Macht des Heiligen» stellen Sie sich gegen die Entzauberung des Sakralen. Warum?
Ich würde es nicht ganz so ausdrücken. Das Buch setzt sich im Kern mit einer grossen Geschichtserzählung des 20. Jahrhunderts auseinander, nämlich jener des soziologischen Klassikers Max Weber. Weber behauptet, dass es im Juden- und Christentum einen mehr als 2000 Jahre langen Prozess der Entzauberung der Welt gegeben habe, der für ihn mit der Magiefeindlichkeit der Propheten begann. Bei Jesaja erklärt Gott, dass er keine Brandopfer im Tempel wolle, sondern Gerechtigkeit unter den Menschen. Dies zeigt, wie sich die Gottesvorstellung änderte, von einer Gottheit, die man mit Opfern beschwichtigen konnte, hin zu einer hoch moralischen Gottesvorstellung. Weber leitete daraus eine Geschichtserzählung ab, die über die Reformation zur Aufklärung und in die Sinnkrise der «Moderne» führte. Nur während des Mittelalters habe dieser Prozess einen Rückfall in die magische Dimension erfahren.

Die Reformation stellt gemäss Max Weber eine Zeitenwende dar.
Max Weber hatte einen protestantischen Hintergrund, ohne erkennbar gläubig zu sein. Nach seiner Auffassung bedeutete die Reformation den erneuten Durchbruch der prophetischen Tradition, die er als eine Absage an das Magische verstand. Weber glaubte, dass die Reformation die entsprechenden Impulse für den modernen Kapitalismus, aber auch für die frühe neuzeitliche Wissenschaft und die Aufklärung gab.

 

«Die Reformatoren zielten gewiss nicht auf Säkularisierung, sondern auf ein radikaleres Gottesverständnis.»
Hans Joas

 

Sie bestreiten diese Darstellung der europäischen Geschichte.
Ja, dies auch deshalb, da viele Webers Geschichtsdeutung als die Vorgeschichte der modernen europäischen Säkularisierung auffassen. Sie sehen die Schwächung der Religionen im 19., 20. und 21. Jahrhundert als blosse Spätfolge eines Prozesses, der bei den jüdischen Propheten eingesetzt hat und dann das Christentum durchzieht. Diese Verkettung der Bestandteile ist aber falsch. Es gibt nicht diesen einen historischen Prozess, sondern viele Teilprozesse, die auch Gegenprozesse ausgelöst haben. Dies ist wichtig, wenn es um die Bedingungen eines modernen religiösen Glaubens geht.

Entspricht Webers Vorstellung einer europäischen Perspektive?
Ja, er hat sie aus der Geschichte der europäischen Nationalstaaten, vor allem Frankreichs, abgeleitet. Zur Nationalgeschichte der USA und anderer Länder, die später einen Modernisierungsschub erlebt haben, etwa in Ostasien, passt Webers Ansatz nicht.

Für Sie gehört die Magie nach wie vor in unsere Zeit?
Mit der Bekämpfung der Magie ist diese nicht aus der Welt verschwunden. Auch heute gibt es Magisierungen. Aber ich verteidige nicht die Magie. Was mich beschäftigt, sind die Chancen für eine moralisch universalistische und intellektuell vertretbare Religiosität in unserer Zeit.

Wenn Sie heute von Magie sprechen, laufen Sie Gefahr, in die Ecke der Esoterik gestellt zu werden, in die Welt der Hexen und Geister.
Heute bedeutet für viele magisch, mystisch und mythisch das Gleiche. Das ist natürlich ein begriffliches Durcheinander. Für mich heisst magisch, sakrale Kräfte zu beherrschen und für eigene Zwecke einzusetzen. Ich veranschauliche dies oft mit dem Zaubertrank bei Asterix: Der Trank verleiht den Galliern übermenschliche Kräfte, die ihnen im Kampf gegen die Römer helfen.

Die Reformierten haben den Heiligenkult aus den Kirchen vertrieben. Haben die Reformatoren damit den Glauben entzaubert? Oder mit Ihrem Bild gesprochen: Haben die Protestanten den Zaubertrank ausgeleert?
Die Reformatoren zielten gewiss nicht auf Säkularisierung, sondern auf ein radikaleres Gottesverständnis. Sie betonten stark die Transzendenz Gottes, mit dem man keinen Handel treiben kann. Deshalb lehnten sie den Ablasshandel und die Heiligenverehrungen ab. Dafür hege ich, obwohl Katholik, durchaus Sympathie. Ich halte dies für die moralischere und durchdachtere Gotteskonzeption. Nur lautet meine Frage, ob und wie diese stark transzendente Konzeption lebbar ist.

Wie meinen Sie das?
Braucht es bei einem Gott, der so weit von den Menschen weg ist, nicht Zwischenschritte oder Vermittler, die ihnen helfen, zu glauben und danach zu leben?

 

«Wenn man den katholischen Heiligenkult und die Marienverehrung nicht als Formen der Magie deutet, sondern als Weg der Vermittlung, dann wird das Christentum etwas menschlicher und lebbarer.»
Hans Joas

 

So wie in der katholischen Kirche.
Ja. Wenn man den katholischen Heiligenkult und die Marienverehrung nicht als Formen der Magie deutet, sondern als Weg der Vermittlung, dann wird das Christentum etwas menschlicher und lebbarer. Die Heiligen erscheinen als Freunde Gottes, denen man angstfreier seine Bitten vortragen kann.

Dieser Umgang mit dem Magischen zeigt sich auch im Unterschied zwischen katholischem und reformiertem Verständnis von Eucharistie und Abendmahl. Für die Katholiken verwandelt sich der Wein in das Blut Christi, die Reformierten sprechen lediglich von einem Erinnerungsmahl.
Die Eucharistie ist nach dem katholischen Verständnis der Sakramente keine Magie. Aus der Perspektive von Weber und vieler Protestanten mag dies aber so erscheinen.

Sie plädieren dafür, dass die Kirche trotz Moderne mehr Transzendenz zulässt.
In meinem neuesten Buch, das vor wenigen Wochen erschienen ist, gehe ich der Frage nach, wie der Bezug zur Transzendenz, dem also, was jenseits dieser Welt liegt, organisierbar ist. Ohne Organisation geht es nämlich in dieser Welt nicht. Wenn wir etwa diesen Bezug zum Transzendenten an die nächste Generation weitergeben wollen, dann brauchen wir religiöse Erziehung; wenn wir ihn durchdenken wollen, Theologie; wenn wir ihn erlebbar machen wollen, vorbereitete Gottesdienste.

Wir sprechen jetzt von den Gläubigen. Wie sieht es mit den Menschen aus, die wenig bis nichts mit Glauben am Hut haben. Können Sie mit dem Transzendenten etwas anfangen?
Ich versuche, dies mit dem Begriff des moralischen Universalismus zu erklären. Durch das Verständnis von Transzendenz wird auch ein Verständnis von Menschheit möglich. Wenn etwas aber für alle Menschen gut sein soll, dann kann eine Gemeinschaft mit dieser Orientierung ihre Botschaft nicht auf ein bestimmtes Gemeinwesen beschränken. Die Botschaft reicht darüber hinaus. Diese Auffassung scheint mir bei den Katholiken und Reformierten etwas stärker ausgeprägt zu sein als bei den Orthodoxen und Lutheranern, die historisch in ihren Strukturen stärker mit Einzelstaaten verbunden sind.

Sie plädieren für den biblischen Missionsauftrag.
Ja, man kann ja nicht anders. Wenn man glaubt, etwas begriffen zu haben, was für alle Menschen gut ist, dann sollte man sich aufgerufen fühlen, diesen Gedanken allen Menschen zugänglich zu machen. Natürlich nicht gegen deren Willen.

Christen vertreten die Botschaft Gottes- und Nächstenliebe. Ist diese Botschaft angesichts der Globalisierung, des harten Kampfes in der Wirtschaft und der vielen Kriege, wie aktuell in der Ukraine, noch zeitgemäss?
Nicht nur noch zeitgemäss, sondern aktueller denn je. Aber sie enthält, ohne hauptsächlich Moral zu sein, eben auch moralische Massstäbe für eine heutige politische Einhegung der Globalisierung, die Organisation der Wirtschaft und eine wirkliche Friedenspolitik.

Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online

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